Einleitung
„Es ist eine
Gottesgabe einer
Familie anzugehören, welche seit Jahrhunderten in ihrer
bürgerlichen Einfachheit sich durchgeschlagen hat.“
(C. v. Hase)
In seiner Einführung
zum 2. Band
der „Ahnentafeln berühmter Deutscher“
stellt Johannes
Hohlfeld mit Recht fest:
„ Die Ahnentafeln sind
stumm -
erst die ausdeutende Darstellung ihres Inhaltes kann sie redend machen.
So groß die Freude des Ahnentafelforschers an einer
lückenlos aufgestellten Ahnenreihe ist - es sind doch nur
Namen
und Zahlen, die er gesammelt hat und es ist vorerst nur die reine
Freude des Sammlers, die ihn beherrscht. Er darf es dem Laien nicht
verdenken, wenn dieser gelangweilt fragt, was denn nun mit dem Wissen
und diese lange Reihe von Namen und Zahlen gewonnen sei.“
In der Tat - wollte man den
letzten
Sinn der Ahnenforschung im Zusammentragen von Namen und Daten sehen, so
wäre die ein solches Ziel verfolgende Tätigkeit wenig
mehr
als nutzloser Zeitvertreib oder Spielerei, wenn nicht gar ein Ausdruck
persönlicher Eitelkeit.
Die Frage nach dem Woher des Einzelnen, die Frage
nach seiner Herkunft, nach seinen Vorfahren, hat nur dann Wert, wenn
sie im weitesten Maße Kraftquellen für die eigene
Lebensgestaltung erschließt. Jene Fragestellung, die der
Schweizer Genealoge Arnold Meyer mit den folgenden Sätzen
umschreibt, liegt zunächst in jeder ernsthaft betriebenen
Ahnenforschung, wie in jedem anderen Zweig der Geschlechterkunde
beschlossen:
„Wie viele Menschen
leben nur
dahin; sie träumen den einzigen Traum des Daseins oder treiben
den
Strom der Zeit herab. Wenn sie gefragt werden nach dem Sinn und Gehalt
des Daseins, so wissen sie kaum Antwort oder sie sagen: wir wollen uns
ausleben; wenn das aber heißt, den Strebungen, die sich
oberflächlich an der Alltagsseele zeigen, nachgeben und
nachleben, so ist das Spiel bald ausgespielt und es kommt wenig darauf
an wie es ausläuft; der Einsatz ist zu gering.
Je mehr man sich aber auf sich selbst besinnt und in die Tiefen des
Innenlebens hinabsteigt, um so mehr entdeckt man, welch geheimnisvollen
Ströme da rauschen; wir müssen uns wundern, welch
scheinbar
fremde Mächte uns beherrschen; es ist oft, als ob Stimmen aus
uralten Tagen uns riefen und Anspruch auf uns machten; als ob
zukünftige Geschlechter aus unser fernsten Kinderland
verlangten,
daß wir für sie Bahn schaffen und ihnen emporhelfen
sollten.
Nicht eine Stimme ist, die da laut wird - ganz verschieden, einander oft
widerstrebend und widersprechend klingen die Rufe, ziehen und zwingen
uns die inwendigen Gewalten: Kampf und Friedenssehnsucht, Hader und
Harmonie, Sinnenlust und Seelenadel, hin zu den Menschen und fern in
die stillste Einsamkeit, unbändiger Lebensdrang, Ausruhen und
Eintauchen in Vergessenheit, Hingabe an jeden Augenblick und Sammlung
im Grunde unseres Seins!
Woher kommen diese Stimmen, so fremdartig und doch sagen sie: Wir sind
du, wir sind dein Wesen, aus uns bist du geworden und gewoben:
Es sind die Ahnen,
die in uns
reden und in uns neue Gestalt gewinnen wollen. Unter ganz anderen
Lebensbedingungen, in hohen Zeiten, in harten Tagen, auf der weiten
Heide, im wilden Wald, in engen Gassen mittelalterlicher
Städte,
Handwerker und Gelehrte, Bauern und Krieger haben sich ihre Seelen
geformt, verhärtet oder verfeinert, ihre Lust und Qual, Sehnen
und
Suchen, Enttäuschung und Verbitterung, Erhebung und
Erlösung
- als sie sich fortpflanzten gaben sie ein verborgenes Teil davon
weiter, manches, was sie selbst nicht zum Ausdruck brachten, still
verschließen mußten, was ihnen selbst nicht
bewußt
ward - um so stürmischer begehrte es irgendwo zu leben und
Wirklichkeit zu werden: Was sich nicht vertrug in Ehegatten, zwischen
Eltern und Kindern - dieser Widerspruch wurde
zusammengedrängt,
weitergegeben und will sich auskämpfen und ausgleichen;
Entferntes
fand sich, gleiches häufte sich, Gutes verbog sich zum
Bösen,
gärende Gischt klärte sich, Sturm wurde stille
gesammelte
Kraft.
All das wohnt und wogt in uns... und wenn wir unsere Kinder beobachten,
so sehen wir mit Bewunderung, mit Stolz, Freude oder schmerzlicher
Scham, wie auch da wieder vergangenes, vergessenes aufwacht, Bekanntes
wiederkehrt, Ungeahntes sich erhebt, früher lebendiges
verrinnt
und sich verläuft - wer weiß, wann und bei wem es
wieder
aufwacht!
Wer aber möchte nur Durchgangspunkt, Erbe alter erworbener
Güter und Gaben sein! All unsere Ahnen, die starken und die
schwachen, die rechten und die schlechten rufen uns zu: Hilf uns auf,
hilf uns weiter; mehre das anvertraute Gut, erlöse das
Gebundene,
laß den glimmenden Funken hell auflodern, lösche die
verzehrende Glut. Schaffe Neues aus deinem Eigenen und öffne
dich
der Schöpferkraft, die aus der Tiefe des Alls überall
und
auch in dir weiter wirken und beständige Werte und Gestalten
hervorbringen will. Sei nicht nur ein totes Glied einer Kette, sondern
sei ein lebendiges Glied in dem lebendem, strebendem Organismus deiner
Sippe, deines Volkes. Gib Altererbtes deinen Kindern in neuer
Prägung weiter, vernimm die Stimmen der Zukünftigen,
die du
mit deinem Herzblut nähren, mit dem Ertrag deines Lebens
ausstatten sollst!
Wenn wir rückwärts und vorwärts schauen, wie
anders
wertvoll gestaltet sich das Leben! Aus der Vereinzelung treten wir da
hinein in einen größeren, immer
größer werdenden
Zusammenhang.“
Diese Sinngebung der
Ahneforschung
umschließt jedoch noch nicht das Ganze. Neben der ethischen
Forderung an den einzelnen, der den Blick seiner Väter
prüfend auf sich ruhend fühlt, die ihm zuzurufen
scheinen:
Lebe verantwortlich und gestalte dein Leben bewußt in ernster
Verpflichtung vor denen die vor dir waren, denen du dein Dasein
verdankst und im Hinblick auf die, die nach dir kommen, denn:
„An
dir nun liegt es, ob die Enkel einst auch Grund zum Stolz auf ihre
Ahnen haben!“ (Wilhelm Thimm) - neben dieser
lebensphilosophischen Seite der Ahnenforschung hat sie eine erhebliche
wissenschaftliche Bedeutung.
Die Genealogie ist ursprünglich als Hilfswissenschaft der
politischen Geschichte entwickelt worden. Von der historischen
Fragestellung - „ad illustrandam historiam imperii“
-
gingen die ersten, wissenschaftliche Methoden anwendende Genealogen des
16. und 17. Jahrhunderts aus (Reiner Reinecke, Cyriakus Spangenberg,
Nikolaus Rittershausen, Philipp Jakob Spener), der erste, 1788
erschienene systematische „Abriß der
Genealogie“ von
Johann Christoph Gatterer zeigt denselben Ansatz. Die mit der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts beginnende Renaissance der
Genealogie
und die Ausdehnung ihres Gegenstandes auch auf bürgerliche
Geschlechter ließ, vornehmlich durch die Arbeiten von Ottokar
Lorenz bedingt, eine Tendenz aufkommen, sie als eine
„Grenzwissenschaft“ zu klassifizieren, die zwischen
den
Natur- und den Gesellschafts- („Kultur“)
wissenschaften
eingeordnet werden sollte, während in den zwanziger und
dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts der Versuch gemacht
wurde,
sie als biologisch, psychologische und soziologische Fragestellungen in
sich vereinigend, der seit Paul Tillichs Versuch einer neuen
Systematisierung der Wissenschaften, sogenannten Gruppe der
„Gestaltswissenschaften“ zuzuordnen.
„Die Genealogie hat die Aufgabe, verwandtschaftliche
Zusammenhänge zu erforschen und die Wirkungen dieser
Zusammenhänge in biologischer, psychologischer und
soziologischer
Hinsicht zu untersuchen. Sie hat also eine mehr naturwissenschaftliche
und eine mehr soziologisch - geschichtliche Richtung, und jede
genealogische Arbeit wird nach einer dieser beiden Seiten
schärfer
ausgerichtet sein, je nach der Anlage des Forschers und nach dem Ziel
seiner Forschung.“
© Thomas Hans-Otto Bredendiek
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