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Walter Bredendiek-Carl Ordnung-Günter Wirth
Walter Bredendiek Carl Ordnung Günter Wirth
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Editorial Vorwort Inhalt Rede Dr. H.-J. Beeskow

Carl Ordnung: Neues Denken: Umkehr zur Zukunft. Ausgewählte Aufsätze, Vorträge und Predigten
Herausgegeben von
Hans-Joachim Beeskow und Hans-Otto Bredendiek
Leonhard-Thurneysser-Verlag Berlin & Basel 2012

 

Vorwort
von Carl Ordnung

Immer wieder einmal haben mich Freunde aufgefordert, einen Lebensbericht zu verfassen. Sie fanden meinen Weg als Christ in den Zeiten des Kalten Krieges und der Globalisierung interessant und einleuchtend. Leider habe ich nie Tagebuch geführt. Und sich allein auf Gedächtnis und Erinnerung zu verlassen, scheint mir eine zu unsichere Basis für ein solches Unterfangen zu sein. So kann ich nur eine Auswahl authentischer Zeugnisse, Vorträge, Predigten, Zeitungsaufsätze und Stellungnahmen zusammenstellen. Um   den Hintergrund deutlich zu machen, vor dem sie verfasst wurden, möchte ich in diesem Vorwort skizzieren, wie ich die DDR, ihr Ende und die Folgezeit im Kontext der weltpolitischen Entwicklungen erlebt habe, welche Überlegungen mich bewegten, welchen Irrtümern und Fehleinschätzungen ich erlegen bin und was für mich heute noch gültig ist.
Prägend wurde für mich, dass ich nach 1945 nicht nur im Osten Deutschlands lebte, sondern vor allem, dass ich genau hier, wo die Zukunft von Kirche und Christentum vielen höchst unsicher schien, Christ wurde. Ich bin in einem atheistischen Elternhaus aufgewachsen. Mein Vater war Sozialdemokrat. Erst 1946 kam ich durch meine spätere Frau in Kontakt zur Evangelisch-methodistischen Kirche, und 1949 erlebte ich in einem Gottesdienst, was man traditionell als „Bekehrung“ beschreibt. Ich wurde von der Gewissheit ergriffen, dass die Botschaft des Evangeliums mir ganz persönlich gilt. Weil ich als Siebzehnjähriger noch hatte Soldat werden müssen, konnte ich die Schule nicht abschließen. So war ich dankbar, dass ich nach dem Ende des Krieges und der Befreiung Deutschlands vom Faschismus in Reichenbach (Vogtland) an einem „Neulehrerkurs“ teilnehmen konnte. In der Sowjetischen Besatzungszone war beschlossen worden, dass Lehrer, die Mitglieder der Nazipartei waren, nicht länger im Schuldienst bleiben durften. Um sie zu ersetzen, wurden in sechsmonatigen Schnellkursen Neulehrer ausgebildet.  Ich habe in diesem Kurs nicht nur meine Frau kennen gelernt, sondern war, was mir damals nicht bewusst wurde, damit beteiligt   an   einer wirklich   revolutionären  Maßnahme zur Errichtung einer neuen Gesellschaft. Außerdem trat ich, dem Rat meines Vaters folgend, in die SPD ein und – fand mich Monate später in der SED wieder.
Nach zwei Jahren im Schuldienst wurde ich 1948 zum Studium an die neu errichtete Pädagogische Fakultät der Universität Leipzig delegiert. Ich wählte die Fächer Germanistik, Geschichte und Psychologie und konnte bis auf die pädagogischen Pflichtvorlesungen das Studium völlig frei gestalten. Deshalb nahm ich – weil ich mich nun auch in diesen Fragen kundig machen wollte – in meinen Wochenstundenplan regelmäßig sechs bis acht Stunden Theologie auf. 1950  fand eine Mitgliederüberprüfung in der SED   statt. Ich erklärte, dass ich inzwischen Christ geworden sei, dass ich aber darin keinen Grund sehe, aus der Partei auszutreten. Die Frage sei, ob man mich als solchen akzeptiere. Das wurde verneint. Ich wurde mit guten Wünschen und freundlichen Worten aus der Mitgliederliste gestrichen. Welche Folgen das für mich haben sollte, habe ich erst nach dem Ende des Studiums und nach meiner Rückkehr nach Reichenbach zu spüren bekommen. Obwohl ich der einzige junge Lehrer mit einem Universitätsexamen war, wurde ich nicht an der Oberschule (Gymnasium) eingesetzt, sondern an einer Grundschule. Das änderte sich auch nicht, als in den folgenden Jahren noch zweimal die Stelle eines Deutsch- und Geschichtslehrers dort vakant wurde. Trotz dieser beruflichen Zurücksetzung war es mir geschenkt, nicht bitter zu werden. Hatte mich doch die Lektüre des Neuen Testamentes belehrt, dass Christen nicht unbedingt mit dem Beifall ihrer Umgebung zu rechnen hätten, sondern eher Diskriminierung, Benachteiligung und Verfolgung ausgesetzt wären. Was mich dagegen verwunderte, war die   Besorgnis mancher meiner neuen christlichen Freunde, ob denn in einem atheistischen Staat die Kirche eine Überlebenschance habe. Ich selbst hatte doch gerade selbst die Wirkmächtigkeit christlichen Geistes auch in diesem Staat erlebt. Nicht wenige Christen, aber auch andere verließen in diesen Jahren die DDR. Auch wenn mir bewusst war, dass das Leben im Osten unbequemer bleiben würde, habe ich nie ernsthaft einWeggehen erwogen. Nicht zuletzt weil ich hier Christ geworden war. Was mich damals und auch später bewegte, fand ich erst kürzlich angemessen in einem afrikanischen Sprichwort ausgedrückt: „Wo Gott dich hingesät hat, da sollst du blühen.“

 

Seit meiner Rückkehr aus Leipzig war die Beschäftigung mit Theologie zu meinem Hobby geworden, was auch damit zu tun hatte, dass der methodistische Pastor in Reichenbach, der häufig zu Evangelisationsvorträgen unterwegs war, mich immer wieder einmal einlud, Gottesdienste oder Bibelstunden in der ziemlich mitgliederstarken Hauptgemeinde oder einer der drei Filialgemeinden zu halten. Von Anfang an gab es im Methodismus den Status eines „Laienpredigers“. Ich tat das mit großer Freude, besorgte mir exegetische Literatur und abonnierte die evangelische Monatsschrift „Zeichen der Zeit“, die mich über die Entwicklungen in Kirche und Theologie auf dem Laufenden hielt. In Leipzig hatte mich die Antrittsvorlesung des religiösen Sozialisten Emil Fuchs, der 1950 aus der BRD in die DDR gekommen war, tief beeindruckt. Mitte der 50er Jahre bewegten mich Dietrich Bonhoeffers Briefe aus der Haft „Widerstand und Ergebung“. Und 1956 fand ich in der Festschrift zum 60. Geburtstag von Karl Barth einen Beitrag von Josef   Lukl Hromádka, der  mir   einen   ersten    Einblick in die Gedankenwelt dieses tschechischen Protestanten vermittelte. Diese drei Theologen haben mein Denken und Handeln nachhaltig geprägt. Besonders Bonhoeffers Definition des Christseins als „Dasein für andere“ wurde für mich zu einer Herausforderung.
Um politische Verantwortung zu praktizieren, trat ich 1954 in die CDU ein, in der meine Frau und mein Schwiegervater aktiv waren.  Mir  imponierte,    dass diese Partei in Gestalt der „Meißener Thesen des christlichen Realismus“ 1952 eine eigene weltanschauliche Basis in Abgrenzung zur SED formuliert hatte. Dass sie dabei gleichzeitig den politischen Führungsanspruch der SED anerkannte, schien mir kein Widerspruch zu sein. Denn erstens   verfügten die Marxisten – wie ich damals meinte – über eine durchdachte Konzeption für eine neue Gesellschaft und zweitens hatten sie im Kampf     gegen den Faschismus die größten Opfer gebracht. Außerdem sagte ich mir: Nachdem Christen in der Geschichte durch die Ausübung von Macht und Herrschaft immer wieder den christlichen Glauben in Misskredit gebracht hatten, könnten sie jetzt vielleicht in dienendem Dabeisein ein angemessenes christliches Zeugnis geben.

Nach der Teilnahme an einem Kurs in der CDU-Parteischule in Burgscheidungen wurde ich im Februar 1957 Mitarbeiter in der Kirchenredaktion der CDU-Zeitung „Neue Zeit“ in Berlin und geriet so mitten hinein in  heftige kirchenpolitische Auseinandersetzungen. Die Leitung der Evangelischen Kirchen in Deutschland (EKD), der auch die DDR-Kirchen angehörten, schloss 1957 einen Militärseelsorgevertrag mit der Regierung in Bonn ab. Jetzt ging es darum, ob die EKD-Synode dem zustimmte. Zwei Jahre    vorher war die BRD der Nato, also einem gegen den Osten gerichteten Militärbündnis, beigetreten. Dass die DDR-Regierung diese einseitige Parteinahme der EKD als feindseligen Akt wertete, konnte ich verstehen. Um dies verständlich zu machen, muss ich etwas zu meiner Haltung zur DDR  sagen.   Nach 1945 hatte ich zunächst wenig Interesse an Politik. Meine Liebe galt der Literatur. Nachdem ich Christ geworden war, spürte ich, dass das nicht so bleiben konnte. So bildeten sich während des Studiums    erste Elemente meiner politischen Positionierung. In den Nachkriegsjahren wurden immer neue Verbrechen und Kriegsgräuel der Nazis bekannt, die besonders an Juden und den slawischen Völkern verübt worden waren. Das machte mich betroffen. Mir wurde klar, dass die Schuld Konsequenzen haben musste. So konnte ich mich der aufkommenden Kritik an den Verhältnissen in der Sowjetischen Besatzungszone und an Maßnahmen der von ihr eingesetzten Behörden nicht anschließen. Wenn die Sowjetunion nur einen Bruchteil dessen, was Deutsche den Angehörigen ihrer Völker angetan hatten, hätte rächen wollen, wären wir nicht so glimpflich davon gekommen. Ich war dankbar, dass ich schon bald von dem Schuldbekenntnis erfuhr, das Vertreter der Kirchen im Oktober 1945 in Stuttgart gegenüber Abgesandten der Ökumene ausgesprochen hatten. „Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden!“, hieß es darin. (Später stellte ich fest, dass von den vier politischen Parteien, die nach 1945 ihre Tätigkeit aufnehmen konnten, einzig die Kommunisten  von ihrer eigenen Schuld sprachen). Jedenfalls war diese  Frage Ausgangs- und Angelpunkt meines politischen  Denkens. Im Blick darauf fand ich, dass die Absage an die schuldbeladene Vergangenheit im Osten Deutschlands viel    konsequenter vollzogen wurde als im Westen. Denn dort konnten zahlreiche Parteigänger der Nazis sowohl in Regierungsämtern als besonders auch im  Justizapparat  und  anderen  Behörden  weiterwirken.

Zu verantworten haben das nicht allein die Regierenden in Bonn, sondern ebenso die Westmächte. Sie hatten den Kalten Krieg gegen die erschöpfte und ausgeblutete Sowjetunion begonnen mit der Unterstellung, sie hege Expansionsabsichten. Deshalb müsse man eine antikommunistische Abwehrfront gegen sie mobilisieren. In der fiel Westdeutschland eine besondere Rolle zu, gab es dort doch noch zahlreiche Leute, die genau in diesem Metier Erfahrungen einbringen konnten. Es ist schon makaber, dass offensichtlich einer der wichtigsten Kronzeugen für sowjetische Expansionsabsichten für die USA General Reinhard Gehlen war, Hitlers Spionagechef gegen die Sowjetunion. Er wurde frühzeitig aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft entlassen – mit dem Auftrag, einen entsprechenden Geheimdienst aufzubauen, aus dem der Bundesnachrichtendienst hervorging. Damit wurde der Antikommunismus, der im Zentrum der faschistischen Ideologie stand, rehabilitiert. Diese Entwicklung blockierte in der BRD die Bewältigung der deutschen Schuldgeschichte und vertiefte die Spaltung Deutschlands. 1952 hatte Stalin freie gesamtdeutsche Wahlen vorgeschlagen – unter der Bedingung, dass ein daraus hervorgehendes vereinigtes   Deutschland neutral bleiben müsse. Der Westen hat diesen Vorschlag und ähnliche auf Entspannung gerichtete Initiativen abgelehnt. Er folgte dem Motto Adenauers: „Lieber das halbe Deutschland ganz, als das ganze halb.“ Allerdings blieb auch die DDR gegenüber diesem Vorschlag zurückhaltend. Sie beschloss in  der Folgezeit den  Aufbau des Sozialismus in der DDR. Ich war nie ein Verfechter der Wiedervereinigung. Ich erinnere mich auch nicht an Gottesdienste, in denen um die Wiedervereinigung gebetet wurde. In den Kirchen ging es primär um Frieden in Europa. Ich sagte mir, die Deutschen haben jahrhundertlang in verschiedenen Staaten gelebt, zeitweise in mehr als hundert. Erst 1871 kam es zur Einigung. Und vom Boden dieses einigen Deutschlands sind in der historischen kurzen Zeitspanne von 1871 bis 1945 zwei verheerende Weltkriege ausgegangen. In der Spaltung Deutschlands sah ich ein Gericht Gottes, das gleichzeitig die Chance eröffnete, von zwei deutschen Staaten aus etwas für den Frieden in Europa zu tun. In den beiden deutschen Staaten manifestierten sich zwei unterschiedliche Traditionslinien der deutschen Geschichte: eine bürgerliche (die allerdings durch die Kollaboration mit dem Faschismus diskreditiert wurde) und eine aus der Arbeiterbewegung kommende sozialistische (die, was ich damals nicht sah, durch den Einfluss des Stalinismus deformiert war). Sollten beiden Staaten doch im friedlichen Wettbewerb demonstrieren, welcher besser imstande wäre, Konsequenzen aus der deutschen Schuldgeschichte zu ziehen, einen Beitrag zum friedlichen Zusammenleben der Völker zu leisten und eine sozial gerechte Gesellschaft zu gestalten. Dieser friedliche Wettbewerb wurde allerdings dadurch erschwert, dass die Westmächte und die BRD der DDR die völkerrechtliche Anerkennung verweigerten, was im Klartext heißt, dass sie politisch auf ihre Liquidierung hinarbeiteten.

Darin zeigte sich ein Grundmerkmal des Antikommunismus, der  auf die Vernichtung seines Gegners zielt und die Möglichkeit einer Koexistenz oder gar Zusammenarbeit ausschließt. In diesem Sinne hatte Thomas Mann den Antikommunismus als die „Grundtorheit unserer Epoche“ bezeichnet. Wenn er diese Feststellung ausdrücklich mit dem Hinweis verbindet, dass er selbst alles andere als ein Vorkämpfer des Kommunismus sei, macht er damit deutlich, daß – wie es in der DDR immer  unterstrichen wurde – die Alternative zum Antikommunismus nicht der Kommunismus, sondern die friedliche Koexistenz sei. Im Grunde genommen wollte die Kalte-Kriegs-Politik des Westens der Sowjetunion die Mitgestaltung des Nachkriegseuropas verwehren. Das fand ich ungerecht. Hatte doch gerade sie die größten Lasten und die weitaus meisten Opfer im Kampf gegen Hitler gebracht. Hält man sich heute vor Augen, dass die USA als weltweit stärkste Militärmacht sowohl in Vietnam als auch im Irak und Afghanistan hat Niederlagen hinnehmen müssen, sind Zweifel angebracht, ob    die Westmächte ohne die Sowjetunion überhaupt in der Lage gewesen wären, die hochgerüstete faschistische Diktatur niederzuringen.
So sah meine politische Grundhaltung aus, die mich auch in der journalistischen Arbeit leitete. Diese Arbeit hatte mit dem Verhältnis von Staat und Kirche zu tun, und das war während der ganzen DDR-Zeit ein äußerst konfliktreiches Feld. Dabei standen die Vorzeichen bei Kriegsende nicht schlecht. Die Sowjetische   Militäradministration hatte im Befehl Nummer 1 u. a. die Öffnung von Kirchen und die Abhaltung von Gottesdiensten empfohlen. Sie betrachtete die Kirchen als „antifaschistische Organisationen“, hatte es doch aus ihren Reihen antifaschistische Widerstandskämpfer und sogar einige Blutzeugen gegeben. Auch      die SED begrüßte im Juli 1946 ausdrücklich die „Mitarbeit der Kirchen am Neuaufbau Deutschlands“ und erklärte, dass sich „das christliche Bekenntnis durchaus mit einer   positiven   Stellungnahme zum Sozialismus vereinbaren“ lasse. Die Kirchen jedoch, die schon seit dem 19. Jahrhundert zu den Promotoren des Antikommunismus gehört hatten, waren völlig blind für die Chance, die sich möglicherweise hier eröffnet hätte. Sie forderten die Wiedervereinigung und meinten, dass diese von der Sowjetunion verhindert würde und nahmen damit Partei für die westdeutsche Position. Das rief auf Seiten der SED die ideologischen Hardliner auf den Plan, die glaubten, mit Hilfe atheistischer Propaganda und administrativen Drucks die kirchliche Position schwächen zu können. Diese ungute Auseinandersetzung, die manchen Christen    berufliche und andere Benachteiligung brachte, wurde hauptsächlich auf dem Rücken    Jugendlicher (Jugendweihe, Junge Gemeinde) ausgetragen. Die Annahme des Militärseelsorgevertrags durch die Mehrheit der EKD-Synodalen (darunter vieler aus der DDR) hatte zur    Folge, dass die DDR-Regierung Vertreter gesamtkirchlicher Gremien nicht mehr als Verhandlungspartner betrachtete. Daraufhin bemühten sich führende DDR-Kirchenvertreter, einen Ausweg aus der spannungsgeladenen Situation zu finden. Sie verhandelten mit Ministerpräsident Otto Grotewohl und erklärten in einem darüber veröffentlichten Kommunique, dass „der Militärseelsorgevertrag für die Kirchen der DDR und ihre Geistlichen keine Gültigkeit habe, und dass die Christen in der DDR die Entwicklung zum Sozialismus respektieren“. Diese Erklärung konnte natürlich nicht die Distanzierung der Kirchen aus der Welt schaffen, die sie eben demonstriert hatten und  die in der Situation des Kalten Krieges unfreundliche Maßnahmen seitens dieses Staates geradezu herausforderte.

Die westdeutsche Seite hatte schon 1956 in einer ähnlichen, wenn auch nicht ganz vergleichbaren Lage, eine unliebsame Organisation, die KPD, kurzerhand verboten. Wenn die EKD die von ihr beanspruchte Brücken- und Vermittlerfunktion hätte  wahrnehmen wollen, dann hätte sie sich bemühen müssen, dem ostdeutschen Staat ebensoviel Verständnis entgegenzubringen wie dem westdeutschen. Sie hätte beispielsweise öffentlich die Ernstnahme der Stalin-Note von   1952 von der BRD-Regierung fordern sollen. Mir machten diese Vorgänge klar, wie stark die Kirchen bürgerlich geprägt waren, was nicht unbedingt ein Hindernis gegenüber der neuen Gesellschaft sein   musste. Das verdeutlichte jedoch gleichzeitig, dass die Kirchen in ihrer Masse nicht gewillt waren, Konsequenzen aus dem Stuttgarter Schuldbekenntnis und – noch weniger – aus dem Darmstädter Wort des Reichsbruderrats der Bekennenden Kirche zum politischen Weg unseres Volkes zu ziehen.

Allerdings sollte meine Zeit in der Kirchenredaktion der „Neuen Zeit“ schon bald zu Ende sein, obwohl ich weiterhin für diese Zeitung schrieb. Günter Wirth, der kirchenpolitische Vordenker der CDU, der Sekretär des CDU-Hauptvorstandes und Abteilungsleiter für Kultur- und Kirchenfragen war, schied Ende 1958 aus dem Parteiapparat vorübergehend aus, um sein Germanistikstudium zu Ende zu bringen. Ich sollte ihn in dieser Zeit als Abteilungsleiter vertreten. Ich war nicht begeistert und hätte mir Jahre vorher nicht vorstellen können, in einem Parteiapparat zu arbeiten. Aber ich nahm an. In dieser Funktion bereitete ich u. a. das Gespräch zwischen Walter Ulbricht und Prof. Emil Fuchs vor, das vor allem unter Marxisten einiges Aufsehen erregte. Für mich ist es auch ein Beispiel dafür, dass nicht alles Wichtige, was in der DDR geschah, vorher vom SED-Politbüro beschlossen werden musste. Ulbricht war nach Wilhelm Piecks Tod Vorsitzender des anstelle des Staatspräsidenten eingerichteten DDR-Staatsrates geworden. Aus diesem Anlass gab er eine programmatische Erklärung ab, in der er u. a. feststellte: „Das Christentum und die humanistischen Ziele des Sozialismus sind keine Gegensätze.“ Weil dies für die CDU eine wichtige Aussage war, kam bei einem Gespräch mit Freunden der Gedanke auf, Emil Fuchs zu bitten, Ulbricht in einem Brief für diese Feststellung zu danken. Fuchs war einverstanden. Wir versuchten, für diesen Brief zusätzlich Unterschriften weiterer Theologen und Pfarrer zu bekommen, was leider nur in bescheidenem Maße gelang. Deshalb wurden die    CDU-Verbände gebeten, Unterschriften von Laienchristen einzuholen. In kurzer Zeit kamen   32.000 Unterschriften zusammen. Inzwischen    hatte CDU-Generalsekretär Götting vorgefühlt, auf welche Weise man diese Unterschriften Ulbricht zugehen lassen könne. Der war überraschenderweise bereit, daraus einen Staatsakt zu machen: Er empfing am 13. Februar 1961 Emil Fuchs und einige  weitere Theologen zu einem Gedankenaustausch, über den am Folgetag alle DDR-Zeitungen auf der ersten Seite berichteten und dessen Wortlaut kurz danach veröffentlicht wurde. Im selben Jahr wurde auch die Berliner Mauer errichtet. Ich schreibe diese Zeilen in den Tagen, als sich das Ereignis zum 50. Mal jährt. Das Gedenken an die Mauertoten ist wichtig. Es ehrt die Opfer und erinnert daran, dass der Kalte Krieg wirklich Krieg war, der Menschenleben forderte. Mein Freund Paul Oestreicher, anglikanischer Priester deutsch-jüdischer Herkunft, konnte 1962 im Auftrag der englischen Friedensbewegung ein Gespräch mit Ulbricht führen, in dem es um die Freilassung des in der DDR inhaftierten Heinz Brandt ging. Dabei kam Ulbricht auch auf die Mauer zu sprechen. Oestreicher, der darüber auch ein längeres Gespräch mit dem stellvertretenden britischen Stadtkommandanten in Westberlin hatte, berichtete am 24. Oktober 2009 in der Berliner Zeitung. Danach sagte Walter Ulbricht – „streng sinngemäß, wenn auch nicht ganz wörtlich“ zitiert: ‚Mein Staat war gefährdet. Die bürgerlich erzogene Bevölkerung … floh in Scharen davon. Krankenhäusern fehlten   Ärzte, die ganze Wirtschaft war bedroht.’ Deshalb sei die Mauer samt Schießbefehl eine ‚tragische Notwendigkeit’ gewesen. ‚Denn ohne Schießbefehl hätten wir die Mauer gar nicht erst zu bauen brauchen, jeder Schuss an der Mauer ist zugleich ein Schuss auf mich. Damit liefere ich dem Klassenfeind die beste Propagandawaffe’. Oestreicher schließt seinen Bericht mit der Feststellung: „Der Westen hatte an der deutschen Einheit kein Interesse und muss damit auch für die Mauer ein Stück Verantwortung tragen.“
Dieser Aspekt kam in den Gedenkveranstaltungen 2011 kaum zur Sprache. Westliche Journalisten hatten vor 1961 Westberlin immer wieder als „Pfahl im Fleisch des Ostens“ oder gar als „billigste Atombombe“ bezeichnet. Das sind Metaphern, die sagen wollen, dass der „Frontstadt“ Westberlin eine wichtige Aufgabe im Kalten Krieg gegen die DDR und den ganzen Ostblock zugedacht war. Ein Staat, der sich nicht selbst aufgeben wollte, musste dagegen Maßnahmen ergreifen. In der Tat kam es nach 1961 zu einer gewissen Stabilisierung der DDR-Gesellschaft. Erst später setzten sich die genetischen Defizite des DDR-Sozialismus wieder deutlicher durch und führten zur Stagnation und Erstarrung. Das Experiment der CDU als einer politischen Partei von Christen in einem von Marxisten regierten Staat fand unter Theologen des Auslandes reges Interesse. Einige von ihnen hatten an der Diskussion der „Meißener Thesen“ teilgenommen. An CDU-Parteitagen nahmen regelmäßig ausländische Kirchenvertreter als Gäste teil. Auf Grund dieser ökumenischen Offenheit verfolgte die CDU die Gründung der Christlichen Friedenskonferenz (CFK) mit Aufmerksamkeit und Zustimmung. Die „Neue Zeit“ berichtete    ausführlich darüber. Auf diese Weise kam auch ich mit dieser Bewegung in Verbindung.

Die Atmosphäre des Kalten Krieges in den 50er Jahren lässt sich heute nur schwer nachempfinden. Die Trümmer waren noch nicht beseitigt, da   wurden die Menschen erneut durch eine Kriegsdrohung verstört und Ost wie Westwiesen sich wechselseitig die Schuld dafür zu. 1950 hatte das kommunistische Nordkorea völlig grundlos den Süden des Landes überfallen. Seine Truppen wurden durch eine UNO-Streitmacht unter USA-Oberbefehl zurückgedrängt. Dies bauschte die westliche Politik zum exemplarischen Fall auf, der die Expansionsabsichten der Sowjetunion offenbare, gegen die man sich wappnen müsse. Umfangreiche Rüstungprogramme wurden begonnen. Auch Adenauer forderte die Wiederbewaffnung Westdeutschlands, und er ging davon aus, dass eine westdeutsche Armee auch Atomwaffen besitzen müsse. Das löste einen Sturm der Entrüstung nicht nur  in der  BRD, sondern auch bei denen aus, die unter der deutschen Kriegsführung gelitten hatten. Namhafte westdeutsche Atomphysiker warnten 1957 in dem berühmten „Göttinger Appell“ vor diesem Schritt und verweigerten ihre Mitarbeit.

Diese Situation war der Ausgangspunkt für die Entstehung der CFK. Der Ökumenische Rat in der Tschechoslowakei hatte 1957 auf einer Konferenz die Frage aufgeworfen, was ein Atomkrieg für das christliche Zeugnis    bedeute. Für 1958 lud er Kirchenvertreter aus den Nachbarländern ein, sich gemeinsam dieser neuen Herausforderung zu stellen. Zu dieser ersten „Christlichen Friedenskonferenz“ fanden sich 40 Teilnehmer aus den beiden deutschen Staaten und den Ländern des Ostblocks ein. Wenn schon Politiker nicht mehr miteinander redeten, so mussten Christen das um  des   Friedens willen versuchen. Gleichzeitig nahmen sie damit eine Anregung Dietrich Bonhoeffers auf, der 1934 als Jugendsekretär des Weltbundes für die Freundschaftsarbeit der Kirchen – einer Vorläuferorganisation der   CFK – ein großes ökumenisches Konzil der Heiligen Kirche Christi in der Welt gefordert hatte, um der durch die Machtübernahme des Faschismus in Deutschland anwachsenden Kriegsgefahr entgegenzutreten. Dies schien nun angesichts eines auf Grund der Ost-West-Konfrontation drohenden Atomkrieges noch dringlicher. Damit war offensichtlich ein Nerv der Zeit getroffen. Nach zwei weiteren Vorkonferenzen fand 1961 in Prag das „Konzil“, die I. Allchristliche Friedensversammlung (ACFV) statt. Zu ihr versammelten sich 1961 in Prag mehr als 600 Teilnehmer aus allen Kontinenten, die    alle    christliche Konfessionen repräsentierten: Patriarchen, Metropoliten und Bischöfe, Pastoren, Theologen und Laienchristen. Nach       dieser Konferenz konstituierte sich in der DDR ein CFK-Regionalausschuss, der Prof. Dr. Werner Schmauch, Neutestamentler in Greifswald, zum Vorsitzenden, den damaligen Eberswalder Generalsuperintendanten Albrecht Schönherr zu dessen Stellvertreter und mich zum Sekretär wählte. Damit eröffnete sich mir ein Arbeitsfeld, das meinem Engagement als Christ mehr entsprach als die Arbeit im Parteiapparat. Günter Wirth  war nach dem Studium nicht in seine alte Funktion zurückgekehrt, sondern stellvertretender Chefredakteur der „Neuen Zeit“ geworden. Doch schon bald meinten einige CDU-Mitglieder feststellen zu müssen, dass ich in der CFK die Anliegen der CDU zu wenig zur     Geltung brächte, sie übergaben ein   entsprechendes Memorandum dem CDU-Generalsekretär. Durch mein Engagement in der CFK hatte ich in der Tat die Parteiarbeit etwas vernachlässigt, was 1965 dazu führte, dass ich als Abteilungsleiter abgelöst wurde und hinfort nur noch  wissenschaftlicher   Mitarbeiter   in   der    CDU-Geschäftsstelle war.
Die Gründung der CFK wurde nicht im Politbüro in Prag oder Moskau beschlossen. Und doch war uns klar: Ohne ausdrückliche Zustimmung der politischen Führung hätte sie nicht entstehen können. Was erwartete die sich von    dieser christlichen Friedensbewegung? Der CFK ging es um Frieden, um Entspannung zwischen den feindlichen Blöcken und damit um die      Überwindung des Kalten Krieges. Das berührte sich mit der Außenpolitik der Sowjetunion, die mit immer neuen Friedensvorschlägen den Westen bedrängte, die Situation in Mitteleuropa und besonders in Deutschland durch einen Friedensvertrag festzuschreiben.

Der Westen aber wollte mit seiner Roll-Back-Strategie zunächst die Sowjetherrschaft in Mitteleuropa zurückdrängen. War die CFK deshalb „Befehlsempfänger Moskaus“? Natürlich gab es hin und wieder Konsultationen     zwischen staatlichen Behörden – in der DDR war das das Staatssekretariat für Kirchenfragen – und Vertretern der CFK, und natürlich wurden dabei manchmal auch Wünsche geäußert. Diese wurden jedoch keineswegs immer befolgt. In dieser Hinsicht hatte die CFK einen großen Spielraum. Die Staatskirchenämter  der Ostblockstaaten führten jährlich gemeinsame Tagungen durch, bei denen immer auch die CFK auf der Tagesordnung   stand.    Die inzwischen zugänglichen Protokolle weisen

aus, dass man dort dreimal ernsthaft diskutierte, ob man nicht der CFK die Unterstützung entziehen sollte. Man war unzufrieden, dass die theologische Arbeit einen immer größeren Raum bei den Tagungen einnahm und dass häufig auf „abseitige Themen“ ausgewichen wurde. Der geistige Vater der CFK war Josef Lukl Hromádka, Professor an der Comenius-Fakultät  in   Prag.   Er kehrte nach Kriegsende aus amerikanischer Emigration zurück. Auf der Gründungsversammlung des Weltkirchenrates     in Amsterdam 1948 war er unter den Rednern der einzige Theologe aus dem Ostblock. Dort beschwor er in seinen Ausführungen den Westen, die revolutionäre Bewegung, für die die Sowjetunion stehe, auch als ein Zeichen dafür zu sehen, dass die Armen und Unterdrückten in aller Welt ihren   Anspruch auf    Mitgestaltung der Zukunft einforderten. Auch wenn  der Kommunismus in manchem  grob  und primitiv auftrete, wäre es verhängnisvoll, darauf nur mit einer Politik der (militärischen) Stärke zu antworten. Das stand für ihn hinter der Gründung der CFK.
Die gewaltsame   Beendigung   des „Pragers Frühlings“ 1968 stürzte   die   CFK in eine tiefe Krise. Sie traf mich besonders, da mich mit dem CFK-Generalsekretär Jaroslav N. Ondra, der im Zusammenhang damit zum Rücktritt gezwungen wurde, eine enge persönliche Freundschaft verband, Hromádka solidarisierte sich mit ihm und trat auch zurück. Das alles veranlasste zahlreiche langjährige Mitstreiter, besonders aus Westeuropa und den USA, die CFK zu verlassen. Ich tat mich ebenfalls schwer mit der Akzeptanz der offiziellen Begründung für die Notwendigkeit der militärischen Intervention. Auch wenn ich daraus zunächst keine weiteren Konsequenzen zog, Verletzung und Zweifel blieben. Den Umstand, dass es nach 1968 nicht wie befürchtet zu einer Verstärkung der West-Ost-Konfrontation kam, sondern im Gegenteil eine gewisse Entspannung eintrat, nahm ich zum willkommenen Anlass, die bittere Erinnerung an 1968 zu verdrängen. Die DDR wurde von einer Reihe von Staaten völkerrechtlich anerkannt. Auf der   für 1971 einberufenen   IV. ACFK waren es vor allem Vertreter aus der Dritten Welt, die für eine Fortsetzung der Arbeit der CFK eintraten. Sie hielten es für wichtig, dass neben dem immer noch stark westlich beeinflussten Weltrat der Kirchen eine weitere ökumenische Weltorganisation existiere, die stärker von östlichen Maßstäben und Regeln geprägt sei.

In der CFK – und das prägte mein weiteres Leben – lernte ich, global zu denken. Ich ließ die enge DDR-Sicht hinter mir und konnte die Probleme zu Hause in Relation zur internationalen Entwicklung sehen und das „relativierte“ sie. Ich wurde Sekretär der internationalen CFK-Studienkommission „Politik und Ökonomie“, die sich schwerpunktmäßig mit Entwicklungen in der Dritten Welt beschäftigte. Dadurch gewann ich Freunde   aus  verschiedenen   Entwicklungsländern, die   diese globale Sicht für mich konkret erlebbar machten, so dass sie nicht im Theoretischen blieb. Die Theologie der Befreiung eröffnete neue Perspektiven. Und: Die DDR gehörte zu jenen Ländern, die Befreiungsbewegungen nicht nur politisch, sondern auch praktisch durch materielle Hilfeleistung unterstützten. Die SED sprach damals von der „Veränderung des internationalen Kräfteverhältnisses zugunsten des Friedens und des Sozialismus“. Ein Blick auf die internationale Entwicklung schien diese Sicht zu bestätigen. Mit der Nelkenrevolution   1974   in Portugal brach das portugiesische Kolonialreich zusammen. Angola und Mosambik befreiten sich und proklamierten eine Entwicklung in Richtung eines afrikanischen Sozialismus. Mitte der 70er Jahre konnte die vietnamesische Befreiungsfront ihren Sieg über die USA-Interventionstruppen feiern, und 1979 siegte die sandinistische Revolution in Nicaragua. Wir fühlten uns damals als Teil dieser weltweiten Kampfgemeinschaft für eine bessere Zukunft. Nur die innenpolitische Entwicklung in der DDR schien damit nicht ganz Schritt zu halten. Mein Engagement für den Sozialismus gründete nicht in der Überzeugungskraft des DDR-Modells, sondern in dem aus der Begegnung mit der Dritten Welt gewonnenen Wissen, dass der Kapitalismus für deren riesige Probleme keine Lösung bietet. 1978 nahm ich an einer CFK-Konferenz in Panama-City teil, zu der Theologen aus Lateinamerika eingeladen waren. Mich beeindruckten ihre Berichte über die Kämpfe, in denen sie standen und vor allem, welch große Hoffnung sie auf den Sozialismus setzten. Ich fuhr danach mit der bangen Frage nach Hause, ob wir in der DDR, auch wir Christen, genug täten, diese Hoffnung nicht zu enttäuschen.

Ein weiteres Feld meines Engagements fand ich in der GossnerMission. Sie hatte im 19. Jahrhundert christliche Handwerker als Missionare nach Indien    entsandt. Aus ihrer Arbeit entstand die Gossner-Kirche. Nach 1945 erkannte man, dass man nicht nach Übersee gehen müsse, um Nichtchristen zu treffen. Die gab es inzwischen auch in Deutschland, vor allem unter den Industriearbeitern. In diesem Bereich begann man eine neue Arbeit. Die Gossner-Mission war die erste kirchliche Institution, die Konsequenzen aus der Zweistaatlichkeit zog. 1954 wurde der DDR-Teil organisatorisch selbständig. Mit seinem Leiter, Pastor Bruno Schottstädt, verband mich eine lebenslange Freundschaft.
Die DDR-Gossner-Mission experimentierte mit neuen Formen kirchlicher Arbeit. Nach dem Vorbild französischer Arbeiterpriester ermutigte sie junge Theologen, Jobs in sozialistischen Großbetrieben anzunehmen, um Erfahrungen in der neuen gesellschaftlichen Wirklichkeit zu sammeln. Sie organisierte ökumenische Aufbaulager, die beispielsweise jüdische Friedhöfe pflegten oder Wohnungen von Senioren renovierten. Das alles erregte die Aufmerksamkeit in der ökumenischen Bewegung, die sich damals in einer Aufbruchphase befand. Und so stellten sich nach und nach interessierte Besucher in Berlin ein. Als Ausländer konnten sie mit einem Tagesvisum von West- nach Ostberlin kommen. Mit ihnen gab es anregende Gespräche, durch die auch ich immer mehr von dieser ökumenischen Aufbruchstimmung ergriffen wurde. Die neuen Erfahrungen mussten theologisch reflektiert und nach Möglichkeit mit anderen Kontexten verglichen werden. Es gelang der Gossner-Mission, dafür junge Theologen aus den USA, der Schweiz und den Niederlanden zu gewinnen. Sie kamen jeweils für ein Jahr, wohnten in Westberlin und arbeiteten bei der Gossner-Mission in Ostberlin. Einer dieser „fraternal worker“ war der US-Amerikaner Harvey Cox. Sein   Buch „The Secular City“ („Stadt ohne Gott“), das ihn bald über sein Land hinaus bekannt machen sollte, reflektiert weithin Einsichten, die er hier gewonnen hatte. Viele Mitarbeiter der Gossner-Mission wurden auch aktiv in der CFK. Zu der für 1964 in Prag geplanten II. ACFV sollten weltweit weitere Kirchenvertreter eingeladen werden. Die DDR-Behörden hatten starke Vorbehalte gegenüber kirchlicher Missionstätigkeit, die sich tatsächlich vielfach durch Unterstützung der Kolonialpolitik kompromittiert hatte, so dass eine Kontaktaufnahme der DDR-Gossner-Mission mit der indischen Gossner-Kirche zunächst aussichtslos schien. Anfang 1964 nutzten deshalb Bruno Schottstädt und ich diesen CFK-Auftrag zu einem Besuch der Gossnerkirche und der methodistischen Kirche in Indien. Das war meine erste Begegnung mit einem Land der Dritten Welt, die nachhaltige Eindrücke hinterließ und meinen Horizont erweiterte. 1966 wurde ich überrascht durch eine Einladung zur „Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft“, die im Sommer in Genf stattfinden sollte. In den Monaten vorher hatten Mitglieder des Ökumenischen Rates in Berlin die Gossner Mission besucht. Ich hatte in den Gesprächen mit ihnen u. a. auch auf die Arbeit der CDU hingewiesen. T. B. Simatupang aus Indonesien fand diese Möglichkeit politischen Engagements von Christen in einem „kommunistischen“ Land höchst bemerkenswert. Er  veranlasste   wohl  meine  Einladung, und   zwar nicht als Beobachter oder Gast, sondern als Teilnehmer. Die zwei Wochen dauernde Konferenz war eine deutliche Manifestation des neuen Geistes der   ökumenischen Bewegung, ihrer stärkeren Hinwendung   zur  Dritten Welt und der Unterstützung des Kampfes gegen Kolonialismus und Rassismus. In den 70er Jahren besuchten Bruno Schottstädt und ich dreimal den Stab des Ökumenischen Rates in Genf. Wir wurden vom jeweiligen Generalsekretär empfangen und führten Informationsgespräche in  den verschiedenen Abteilungen. Auf diese Weise lernte ich viele Ökumeniker kennen. Die Mitglieder des Ökumenischen Rates sind zwar Kirchen. Die Mitarbeiter des Genfer Stabes waren sich jedoch im Klaren, dass die lebendige ökumenische Bewegung   primär getragen wird von agilen und kreativen Gruppen, wie etwa der Gossner-Mission oder auch   der   Niederländisch-ökumenischen     Gemeinde und dem Hendrik-Kraemer-Haus in Berlin, zu denen ich auch gute Beziehungen hatte.

Mein kirchliches Standbein aber war die Evangelisch-methodistische Gemeinde in Berlin-Friedrichshain. Wegen meines politischen Engagements wurden wir als Familie zunächst mit Zurückhaltung aufgenommen. Das änderte sich, nachdem ich einige Male den Pastor beim Predigtdienst vertreten hatte. Diese lebendige Gemeinde ist bis heute meine geistliche Heimat. Ich wurde bald zum Schriftführer im Gemeindevorstand gewählt. In spannungsreichen   Situationen der DDR-Zeit war es vor allem die Verkündigung    von Pastor Frieder Ringeis, die mir Kraft und Ermutigung gab. Aber auch über die Gemeinde hinaus wurde ich in der Evangelisch-methodistischen Kirche (EmK) vielfältig aktiv. Gleich, nachdem ich meine journalistische Tätigkeit aufgenommen hatte, bat man mich im Ausschuss für Weltfrieden der Jährlichen Konferenz (Synode) mitzuarbeiten. In meiner jahrzehntelangen Mitarbeit gelang es mir nur selten, die anderen Ausschussmitglieder von meiner Sicht der Probleme zu überzeugen. Aber es gab offene und sachliche Gespräche, und wir lernten, dass man sich trotz unterschiedlicher politischer Meinung menschlich voll akzeptieren kann.

1963 fand in Freudenstadt im Schwarzwald eine Europäische Sozialkonferenz der EmK statt, auf der der politisch sehr zurückhaltende europäische Methodismus mit den Positionen der in diesen Fragen progressiver denkenden Engländer und Amerikaner bekannt gemacht wurde. In einer Erklärung  begrüßte die Konferenz das Wirken kirchlicher Friedensgruppen und nannte dabei ausdrücklich die CFK. Das führte offensichtlich dazu, dass mich der damalige Bischof Dr. Friedrich Wunderlich immer wieder aufforderte, vor den Jährlichen Konferenzen über die CFK zu berichten. Zu einer II. Sozialkonferenz 1967 wurde ich eingeladen, über den „Dialog zwischen Politik und Religion“ zu referieren.1964 hatte der Bischof mit seinem Schweizer Amtsbruder an der II. ACFV in Prag teilgenommen, zu  der insgesamt mehr als 50 Vertreter der weltweiten EmK gekommen waren. 1965 besuchte eine Gruppe von USA-Methodisten im Rahmen   einer   Studienreise die DDR. Ihr Leiter, Pastor Dr. Carl Soule, war der Geschäftsführer des methodistischen UNO-Büros. Die amerikanischen Methodisten hatten gegenüber dem UN-Gebäude in New York ein Kirchenzentrum errichtet, in dem er arbeitete. In den Folgejahren organisierte ich für die von ihm geleiteten Studiengruppen vier oder fünfmal das Programm für die DDR, das nicht nur Gemeindetreffen und den Besuch kirchenhistorische Orte, sondern auch Begegnungen mit Politikern, u. a. mit dem Leiter der USA-Abteilung des Außenministeriums umfasste. Carl Soule, der auch Leiter einer DDR-Freundschaftsgesellschaft in den USA war, arbeitete bald auch in der CFK mit. Nachdem er einen tschechischen Kirchen- und CFK-Vertreter eingeladen hatte, für ein halbes Jahr im New Yorker Kirchenzentrum   mitzuarbeiten,   sollte ich dessen Nachfolger werden. Das verhinderte die US-Regierung durch die Verweigerung eines Einreisevisums. Selbst als ich 1971 einer der   vier offiziellen Delegierten meiner Kirche zur 12. World Methodist Conference in Denver (Colorado) war, erhielt ich dieses Visum nicht. Das erwirkte 1973 erst der Lutherische Weltbund für mich als Mitglied einer ökumenischen Besuchergruppe, die unter dem Motto „Mission on Six Continents“ die unterschiedlichen Aspekte des Lebens  in     den USA kennen lernen und ihre Eindrücke zum Schluss  mit führenden Vertretern der drei lutherischen Kirchen des Landes diskutieren sollte. Die Begegnung mit Dr. Soule und den amerikanischen Besuchergruppen vermittelten tiefere Einblicke in die Situation   des   USA-Methodismus. Besonders interessant fand ich die linke „Methodist Federation for Social Action“, die seit Beginn des Jahrhunderts die Gesamtkirche zu deutlicheren Stellungnahmen in sozialen Fragen drängte. Nach ihrem Vorbild gründete ich 1969 zusammen mit einigen Freunden einen „Arbeitskreis   evangelischer-methodistischer Christen für gesellschaftliches Handeln“. Die methodistische Kirche hatte sich weltweit 1968 mit der Evangelischen Gemeinschaft, einer früheren Abspaltung, vereinigt. Im Zuge dieses Prozesses wurde auch die Verselbständigung der DDR-Kirche eingeleitet, was 1970 zur Wahl eines ostdeutschen Bischofs führte, der erklärte, dass die EmK   in    der DDR „bewusste Kirche im Sozialismus“ sein wollte. Das griffen wir als Arbeitskreis auf. Gleichzeitig richteten wir einige Vorschläge an die Synode, die zum Teil angenommen wurden. Leider schlief die Arbeit des Kreises allmählich ein. Es  zeigte sich, dass es im deutschen Methodismus keine Tradition für  solche Aktivitäten gab. Trotz der    relativen Entspannung in den 70er Jahren wurde das Wettrüsten – auch auf dem Gebiet der Nuklearwaffen – fortgesetzt.

Die Welt war ein Pulverfass, das durch einen dummen Zufall hochgehen   konnte. Die Wahl  Ronald Reagans zum US-Präsidenten   und seine Politik verschärften die internationalen Spannungen, was die Gefahr eines Nuklearkrieges erhöhte. Immer mehr Menschen begriffen das, was die psychologische Voraussetzung dafür war, dass der Ruf nach Abrüstung zu einer Massenbewegung werden konnte. Auch  in Kirchengemeinden wurde das diskutiert. In dieser Situation ergriff ich die Initiative, die CFK, die in  der DDR bisher hauptsächlich von Einzelpersonen getragen wurde, stärker   an   der kirchlichen Basis zu verwurzeln. Ich besuchte Kirchgemeinden, hielt Vorträge, führte Gespräche. Schließlich beschloss als erste die evangelische Gemeinde in Oderberg (Brandenburg) korporativ in der CFK mitzuarbeiten. In der Folgezeit erklärten sich weitere Kirchgemeinden zu CFK-Basisgemeinden, etwa Königswartha (Sachsen) und Kapellendorf (Thüringen). An anderen Orten entstanden CFK-Arbeitsgruppen, die von der jeweiligen Gemeinde getragen wurden: z. B. in Dessau. Oder Gemeinden wurden Gastgeber für internationale Tagungen, wie Klein-Schwarzlosen (Sachsen-Anhalt). Königswartha   nahm Verbindung zu CFK-Gemeinden in Bremen und den Niederlanden auf und veranstaltete gemeinsame CFK-Basisseminare.

Das alles veränderte das Profil der CFK in der DDR, wurden doch mehr so genannte „Laien“ auch in die internationale CFK-Arbeit einbezogen. Ich unterstützte diese Basisarbeit nach Kräften, stieß dabei allerdings im Staatssekretariat für Kirchenfragen auf starke Vorbehalte. Die DDR verfolge eine konsequente Friedenspolitik, sagte man mir, deshalb sei in unserem Land keine Basisarbeit für den Frieden nötig. Trotzdem ließ man uns gewähren, wenn auch mit gelegentlich verweigerten Ein- und Ausreisegenehmigungen. 1969 hatten sich die Evangelischen Landeskirchen zum Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR zusammengeschlossen und sich damit organisatorisch von den westdeutschen Kirchen getrennt. Sie wählten Albrecht Schönherr, der das Bischofsamt im zur DDR gehörenden Teil der Berlin-Brandenburgischen Kirche wahrnahm (er war nach Schmauchs Tod kurzzeitig Vorsitzender des DDR-Regionalausschusses, hatte sich aber 1968 von der CFK getrennt) zu ihrem Vorsitzenden. Zwei Jahre später   erklärte   er auf einer Synode des Bundes, man wolle Kirche in der sozialistischen Gesellschaft, nicht neben ihr oder gegen sie sein. Das bedeutete, dass die Kirche (endlich) diese Gesellschaft ernst nehmen wolle, was allerdings Kritik an ihr nicht ausschließen sollte. Und da die DDR zunehmend Krisenerscheinungen aufwies, ließ Kritik nicht lange auf sich warten. Die Jugend begehrte auf gegen Reglementierung und Indoktrination. Was das für junge Menschen bedeutete, habe ich schmerzlich  mit  unserem Sohn erlebt. Bei dem Versuch, zusammen mit einem  Freund die  DDR via  Tschechoslowakei Richtung  Österreich zu verlassen, wurde  er an  der Grenze  verhaftet und zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Das war ein schwerer Schlag für unsere Familie. Doch so sehr mich das harte Urteil gegen meinen damals noch jugendlichen Sohn traf – ich muss gestehen, dass ich erst nach dem Zusammenbruch der DDR allmählich begriff, wie stark ich damals in den Denkkategorien des Kalten Krieges befangen war, so dass ich es nicht als das erkannte, was es in Wirklichkeit war: Eine eklatante Menschenrechtsverletzung. Es    fiel mir nicht leicht, einzusehen, dass er damals mehr im Recht war als ich. Meinte ich doch gerade angesichts der weltpolitischen Entwicklung in den 70er Jahren, jedermann müsse sehen, dass  dem Sozialismus die Zukunft gehöre. Außerdem  bedeutete  in  der  vertrackten Konfrontationssituation des  Kalten  Krieges  jede  Kritik an der einen Seite einer Parteinahme für die andern. Hinzu kommt, dass wir uns Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre in einer Weltsituation vorfanden, die im Banne einer heute uns schwer nachvollziehbaren existenziellen Bedrohung stand. Der in dieser Zeit neu entfesselte Rüstungswettlauf, die technische Vervollkommnung der   Nuklearwaffen und die sich zuspitzende Ost-West-Konfrontation ließen den Ausbruch eines alles vernichtenden Atomkrieges in den Bereich realer Möglichkeiten treten. Das Szenario eines nuklearen Winters wurde ernsthaft diskutiert. Menschen hatten Angstträume, junge  Paare  überlegten, ob  sie  es verantworten können, Kinder in  die  bedrohte Welt zu setzen. Die CFK hatte aus dieser qualitativ neuen Bedrohung, die die Weiterexistenz der Menschheit in Frage stellte, von Anfang an die Konsequenz gezogen, dass die Verhinderung eines Nuklearkrieges die Hauptaufgabe jeder Friedensbewegung sein müsse, dass Frieden also primär eine internationale Aufgabe sei, der gegenüber andere Probleme und Schwierigkeiten, vor allem innenpolitische, zweit- oder drittrangig würden. So ernst die Nuklearkriegsgefahr seinerzeit war, die Abwertung aller anderen Probleme, die Menschen bedrängten, beeinträchtigte, wie mir später klar wurde, nicht nur die Glaubwürdigkeit der CFK-Arbeit, sie entsprach auch nicht dem umfassenden Shalom-Begriff  der  Bibel. Die in den 80er Jahren unter dem  Dach der DDR-Kirchen sich bildenden Friedensgruppen machten genau diese Probleme zu einem Schwerpunkt ihrer Überlegungen. Sie wandten sich etwa gegen Militarisierungstendenzen in der DDR-Gesellschaft. 1978 wurde ein Wehrkundeunterricht als Pflichtfach eingeführt. Ältere Schüler und Studenten mussten sich einer vormilitärischen Ausbildung unterziehen. Dies und andere Maßnahmen sollten der Erhöhung der „Verteidigungsbereitschaft“ dienen. Angesichts der atomaren Bedrohungssituation musste das meiste davon völlig unangemessen erscheinen. In Westeuropa und den USA entstand als Reaktion auf die nukleare Bedrohungssituation eine Friedensbewegung, die Massen mobilisierte, was deutlich machte, dass viele Menschen die Lage als sehr ernst betrachteten. Kirchliche  Gruppen    organisierten Friedenswochen. Wir verfolgten das mit Sympathie. Die CFK führte zusammen mit Kirchengemeinden und Gruppierungen 1979 eine erste Friedenswoche aus Anlass des 40. Jahrestages des mit  dem  Überfall  des   deutschen  Faschismus  auf   Polen begonnenen II. Weltkrieges durch und wiederholte das mit anderer Thematik in den folgenden beiden Jahren, bis dann der Kirchenbund jährlich Friedensdekaden veranstaltete.

Die kirchlichen Friedensgruppen in der DDR hatten sich als ihr Symbol das von der Sowjetunion der UNO gestifteten Denkmal gewählt, das einen Mann zeigt, der ein Schwert zu einer Pflugschar umschmiedete. Es war übrigens durch einen Landesjugendpfarrer, der in der CFK mitarbeitete, in die kirchliche Jugendarbeit eingeführt worden. Er hatte an einer CFK-Tagung     im UNO-Kirchenzentrum in New York teilgenommen. Statt zu erklären, dass dieses Denkmal auch das Ziel der DDR-Politik symbolisiere und in einer sicher nicht leichten politischen Auseinandersetzung deutlich zu machen, warum die Aufrechterhaltung eines militärischen Gleichgewichts zurzeit den Frieden sichere, reagierte der Staat harsch mit einem Verbot des Symbols. Jugendliche, die dies weiterhin zeigten, wurden zum Teil mit harten Strafen bedacht. In dieser spannungsgeladenen Situation, nicht nur in den Beziehungen zwischen Staat und Kirche, wurde ein gewichtiges Wort eines ostdeutschen Kirchenmannes in der DDR völlig überhört. Im Januar 1984 hielt die EKD in Kiel eine Tagung zum Thema  „Gottes Friede den Völkern“ ab. Dabei sollte der langjährige Magdeburger Bischof Werner Krusche über „Schuld und Vergebung – der Grund christlichen Friedenshandelns“ referieren. Der Bischof ging dabei vom Stuttgarter Schuldbekenntnis von 1945 aus und musste feststellen, dass die Kirchen daraus kaum konkrete Konsequenzen gezogen hatten. Er sagte u. a.: „Zu einem Bekenntnis unserer Schuld gegenüber den Kommunisten und dem Sowjetvolk, also gegenüber denen, die dem Nationalsozialismus den entschiedendsten Widerstand geleistet beziehungsweise im Kampf gegen ihn schwerste Opfer gebracht hatten, ist es nie gekommen. (…) Die Ausblendung   der  besonderen Schuld gegenüber dem zur Vernichtung bestimmt gewesenen Sowjetvolk ist der verhängnisvollste und folgenschwerste Vorgang der deutschen Nachkriegsgeschichte.“ Das Ignorieren dieser besonderen Schuld habe einer antikommunistischen Politik Vorschub geleistet. „Durch eine immer maßloser werdende moralische und politische Diskriminierung der Sowjetunion entstand ein Klima, in dem der Gedanke an eine deutsche Schuld diesem ‚Untier‘ gegenüber beinahe absurd erscheinen musste. Die Sowjetunion war der Unrechtsstaat par excellence.“ Diese Sätze beschreiben ziemlich genau die Sicht, die die entscheidende Motivation für mein politisches Engagement war. Das bedeutete nicht, wie Krusche weiter sagt, „ … die Vorgänge in der Stalinzeit zu bagatellisieren oder gar zu rechtfertigen“. Es ging viel mehr darum, die ideologischen Verkrampfungen auf beiden Seiten und vor allem die „antikommunistische Gegenideologie“ abzubauen und friedliche Koexistenz zwischen unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen zu ermöglichen. Während diese Aussagen an der aufgeheizten DDR-Situation völlig vorbeigingen und auch in den EKD-Leitungsgremien wenig Resonanz fanden, gaben sie in der BRD zahlreichen kirchlichen Gruppen und Initiativen den Anstoß zu Aktivitäten in Richtung „Brücken der Verständigung“ und „Versöhnung und Frieden mit den Völkern der Sowjetunion“ – so die  Titel   zweier  Veröffentlichungen aus den Jahren 1986 und 1987.
Zwei Erfahrungen gaben mir Mitte der 80er Jahre wieder Hoffnung auf eine Erneuerung des Sozialismus. Da war einmal die Wahl Gorbatschows zum Generalsekretär der KPdSU und sein schon bald hervortretender neuer politischer Stil im Zeichen eines neuen Denkens. Zum anderen hatte ich einige kritische DDR-Marxisten kennen gelernt. Da war Helmut Faulwetter, Professor an der Hochschule für Ökonomie, Experte für Entwicklungsländer, mit dem ich befreundet war. Er sah die sich verschärfenden Probleme der DDR-Wirtschaft und berichtete, dass seine Hochschule deshalb Memoranden an das SED-Politbüro richtete. Um den Prorektor der Humboldt-Universität Dieter Klein sammelte sich eine Gruppe junger Marxisten, die die Konzeption eines modernen Sozialismus diskutierten. Mit einigen  von  ihnen  veranstalteten wir  interne  CFK-Seminare, die höchst spannend verliefen und neue Perspektiven zu eröffnen schienen. Das nährte in  uns die Illusion, dass es für eine Erneuerung der DDR noch nicht zu spät sei. Leider beschränkten sich solche Diskussionen auf kleine Kreise, die keinen Einfluss auf die in Erstarrung verharrenden Entscheidungsgremien hatten. Eher erregte der von den DDR-Kirchen 1986 begonnene „konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ größere öffentliche Aufmerksamkeit. Er gipfelte in drei Ökumenischen Versammlungen, die eine kritische Bilanz der DDR-Wirklichkeit    zogen und konstruktive Veränderungen anmahnten. Ich war einer der sechs Delegierten meiner Kirche zu   diesen Versammlungen und wurde Sekretär der Arbeitsgruppe, die sich mit Fragen der Entwicklungsländer beschäftigte. Als ich auf einer öffentlichen Veranstaltung der EmK-Synode in Zwickau darüber berichtete, sagte ich als mein   Fazit dieser  Versammlungen: Wenn man überhaupt von einem Sozialismus in der DDR reden wolle, dann nicht von einem entwickelten Sozialismus, wie das die SED behaupte, sondern allenfalls von einem unterentwickelten Sozialismus. 1989 war meine Einschätzung der Lage ambivalent. Einerseits sah ich die tiefe Krise des DDR-Systems, die sich durch die Massen, die ihre Ausreise über Ungarn und die Tschechoslowakei erzwangen, noch verschärfte. Andererseits konnte und wollte ich die Hoffnung für ein Projekt, für das ich mich seit Jahrzehnten engagiert hatte, nicht ganz aufgegeben. Mit einem plötzlichen und totalen Zusammenbruch des DDR-Sozialismus, wie er durch die Maueröffnung eingeleitet wurde, habe ich jedoch nicht gerechnet. Damit war ich keine Ausnahme. Die meisten Menschen einschließlich der Politiker in Bonn waren davon überrascht.

Ich hatte mich intensiv mit dem Marxismus auseinandergesetzt und mir manches davon angeeignet. Bis  Mitte  der  60er  Jahre schien die Weltenentwicklung  im  Großen   und   Ganzen   die marxistische Analyse zu bestätigen. Wenn man jedoch heute Bilanz zieht, muss nüchtern festgestellt werden: keine nach diesem Muster durchgeführte Revolution hat ihr Ziel, eine sozialistische Gesellschaft zu schaffen, erreicht. Für mich war das zunächst ein Schock, der allmählich einer Ernüchterung wich. Ich hatte mich für das sozialistische Experiment in der DDR aus Überzeugung entschieden. Deshalb hat mich die Frage nach den Ursachen für sein Scheitern seit 1990 immer wieder beschäftigt. Dabei musste ich die Erfahrung machen, dass es oft lange braucht, sich von Irrtümern und Fehleinschätzungen zu befreien. Da ich aber die Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit um der Zukunft willen für wichtig halte, möchte ich kurz andeuten, welche Gründe ich dafür heute sehe:

1. Das gravierendste Defizit des Realsozialismus war sein Mangel an Demokratie, was umso schwerer wiegt, als die sozialistische Arbeiterbewegung ja ursprünglich angetreten war, um die Demokratie gleichsam zu vollenden, d. h. allen Bürgern die unmittelbare Teilnahme an der Machtausübung zu ermöglichen. Denn auch die bürgerlich-liberale Demokratie bleibt von einem asymmetrischen Machtverhältnis geprägt. In ihr hat die Minderheit der Eigentümer von Produktionsmitteln einen ungleich größeren Einfluss auf die Gestaltung der Gesellschaft als die Mehrheit derer, die nur über ihre Arbeitskraft verfügen. Zwar haben alle

Bürger gleiche politische Rechte, aber jenes Missverhältnis kann durch Wahlen nicht ausgeglichen werden. Die Führer der marxistischen Partei, der die Besatzungsmacht in Ostdeutschland die politische Führungsrolle übertrug, kamen fast alle aus der sowjetischen Emigration und waren dort auf das undemokratische sowjetische Modell verpflichtet worden. Bescheidene Versuche, auf Grund der konkreten Verhältnisse und Aufgaben, davon abzuweichen (z. B. in Gestalt des sozialistischen „Mehrparteiensystems“ oder Ulbrichts „Neues System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft“) wurden von sowjetischer Seite im Verein mit Kräften der SED-Führung klein gehalten oder ganz liquidiert. Überdies förderte die Tatsache, dass die große Mehrheit der Bevölkerung einem sozialistischen Experiment mit Ablehnung oder Unverständnis gegenüberstand, die Entwicklung der Partei zum bürokratischen Instrument diktatorischer Herrschaft.
2. Marx und Engels waren sich einig: Der Sozialismus kann nicht in einem   Land  allein   realisiert   werden. Dieses Unternehmen müsse in den wichtigsten Industrieländern gemeinsam begonnen werden. Denn die neue Gesellschaft stellt eine gewaltige Herausforderung dar, die die konstruktive, kreative und kritische Mitarbeit möglichst vieler Menschen erfordert. Ihre Errichtung würde durch störende Einwirkungen einer feindlichen Umwelt massiv  erschwert, wenn nicht ganz unmöglich gemacht. Selbst Lenin hoffte darauf, dass der Oktoberrevolution Erhebungen in Deutschland und anderen Industrieländern folgten. Ihm waren die Unzulänglichkeiten des revolutionären Prozesses in Russland bewusst. Dass Stalin dann diese unterentwickelte und verkrüppelte Form des Sozialismus, die die Oktoberrevolution hervorgebracht hatte, zur Norm für alle künftigen sozialistischen Revolutionen machte, war das eigentliche Verhängnis. Das belastete das DDR Experiment schwer, was ich allerdings erst im Rückblick erkennen konnte. 

3. In diesem Sinne hat die jüngste Geschichte die marxistische These, dass die Grundfrage der Revolution die Eroberung der Macht sei, nicht bestätigt. Dass eine revolutionäre Avantgarde die politische Macht erobert und damit die alte Herrschaft durch eine neue ersetzt wird, die dann von oben her die Errichtung der neuen Gesellschaft anordnet, funktioniert mit Blick auf den Sozialismus nicht. So können Menschen nicht für eine schöpferische und engagierte Mitarbeit gewonnen werden. Sozialismus kann nur durch das schöpferische Engagement überzeugter Sozialisten gestaltet werden. Die Historische Kommission beim Parteivorstand der Linken erklärte in einer Stellungnahme zum 50. Jahrestag der Errichtung der Mauer: “Sozialismus braucht Mehrheiten“. Das ist eine Absage an die marxistische Revolutionstheorie und soll sagen, dass eine Gesellschaft erst dann reif für den Sozialismus ist, wenn die Mehrheit von seiner Notwendigkeit überzeugt ist. Ein Sozialismus freilich, wenn man überhaupt an diesem Begriff festhalten will, wird in vielem von traditionellen Vorstellungen abweichen, schon weil die ökologischen Probleme ein größeres Gewicht erhalten, weil also die Bewahrung der menschlichen Lebensgrundlagen ganz neue persönliche Verhaltensweisen und gesellschaftliche Regelungen erfordern. In dieser Hinsicht wies der Realsozialismus gravierende Mängel auf. Zwar wird neuerdings darauf hingewiesen, dass Marx schon im ersten Band des „Kapital“ festgestellt habe, dass der immer mehr von moderner Technik bestimmte Produktionsprozess „zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“ Aber in der Praxis richtete man das Augenmerk ausschließlich auf die ökonomische Seite. In dem 1971 in der DDR erschienenen zweibändigen „Wörterbuch der Philosophie“ findet sich weder das Stichwort „Ökologie“ noch „Umwelt“. Erst die Veröffentlichung des Clubs of Rome über „Die Grenzen des Wachstums“ im Jahre 1972 schreckte auch Marxisten auf. DDR-Ökonomen räumten danach zwar ein, dass sich daraus auch eine für die sozialistische Wirtschaft nicht leicht zu bewältigende Herausforderung ergäbe. Sie bemühten sich jedoch gleichzeitig um den Nachweis, dass dies im Sozialismus besser gelingen könne, weil seine Wirtschaft nicht vom Profitmotiv bestimmt werde. Das blieb allerdings reine Theorie. Denn de facto waren die Umweltbelastungen bzw. -zerstörungen in der DDR und in den anderen Ländern des Ostblocks schwerwiegender als im kapitalistischen Westeuropa. Und zwar aus zwei Gründen: Einmal hatte man hier nicht das technologische Niveau des Westens erreicht, und zum anderen wollte man im ökonomischen Wettbewerb den westlichen Vorsprung aufholen, was durch ökologische Rücksichten gebremst worden wäre. Mein positives Verhältnis zur DDR wurde wesentlich dadurch bestimmt, dass hier der Antifaschismus Staatsdoktrin war. Die Mehrheit ihrer Gründer hat aktiv gegen den Faschismus gekämpft. Nach der Befreiung wurde eine radikale Entnazifizierung durchgeführt. Dass einige ehemalige Mitglieder der Nazipartei später auch hier Positionen in verschiedenen Bereichen einnehmen konnten, stellt nach meiner Sicht diese Bewertung nicht grundsätzlich in Frage. Denn während das  in  Westdeutschland  für    eine  relativ große Zahl ehemaliger Nazis zutraf, handelte es sich hier um Einzelfälle. Vor allem aber bedeutete das keine auch nur ansatzweise Rechtfertigung faschistischen Gedankengutes. Im             Gegenteil, hier   wurde  die öffentliche Äußerung solcher Gedanken bestraft und der Antifaschismus Teil des Erziehungsprogramms. Entsprechende Gedenkstätten wurden eingerichtet und bei jeder Gelegenheit unterstrichen, dass das Opfer der antifaschistischen Märtyrer Verpflichtung für die Gegenwart sei. In der BRD dagegen wurde der Antikommunismus zur Staatsdoktrin, entstandene Traditionsverbände, die Kriegserinnerungen in nationalistischem Sinn wach hielten und es wurden die meisten Deutschen, die wegen Kriegsverbrechen verurteilt worden waren, schon bald rehabilitiert. Der offizielle Antifaschismus in der DDR hatte allerdings ein Manko: Auch die meisten DDR-Bürger waren vor 1945 Anhänger, Mitläufer oder Wähler Hitlers gewesen. Wenn sie dabei nicht auffällig geworden waren, vermied man es, sie auf ihre sich daraus ergebende Verantwortung anzusprechen, so dass sich viele opportunistisch an die neue Lage anpassten. Beispielsweise    sind in  Weimar und Umgebung eine ganze Reihe von Menschen durch handwerkliche Leistungen, Lebensmittellieferungen u. a. an der Errichtung und Aufrechterhaltung des KZ Buchenwald beteiligt gewesen. Wenn man im Land unterwegs war und mit Menschen ins Gespräch kam, zeigte sich oft noch faschistisches Gedankengut.

Mitte der 60er Jahre hatte ich in einem Artikel für das „Evangelische Pfarrerblatt“ die These vertreten, dass der von Heinrich Mann in seinem berühmten Roman portraitierte typische deutsche „Untertan“ in der DDR in Gestalt des deutschen Opportunisten wieder auferstanden sei. Dafür erteilte mir CDU-Generalsekretär Gerald Götting eine Rüge. Er war für diesen Aufsatz seines Mitarbeiters vom ZK der SED kritisiert worden. Über diese Problematik wünsche man    keine öffentliche Diskussion. Auch wenn man für diese Haltung angesichts der zahlreichen komplizierte Fragen, vor denen die DDR stand, ein gewisses Verständnis aufbringen kann, der Schatten, der auch davon auf die DDR fällt, bleibt. Nach   1990  publizierte  Erwin Strittmatter, den ich sehr schätze, Auszüge aus seinen Tagebüchern („Die Lage in den Lüften“). Daraus ging hervor, dass er schon Mitte der 70er Jahre von der DDR nichts mehr erwartete. Das schockierte mich, zumal man von Christa Wolf Ähnliches erfuhr. Ich fragte mich: warum hast du das alles nicht gesehen? Offensichtlich hat das mit dem unterschiedlichen Orten zu tun, die wir in der DDR-Gesellschaft gefunden hatten. Beide, Strittmatter und Wolf, waren Mitglieder der SED und nahmen zeitweise höhere Positionen ein, die ihnen ernüchternde Einblicke in die Hinter- und Abgründe der Machtmechanismen gewährte. Überdies waren sie der ideologischen Enge und Borniertheit der Zensur unterworfen. Ich hatte dagegen in meiner CFK-Tätigkeit einen Ort gefunden, der zwischen Kirche und Staat angesiedelt war und einen relativ großen Spielraum gewährte. Natürlich habe ich mich über viele Dinge geärgert und manche Auseinandersetzung durchzustehen gehabt. Aber von der Inhaftierung unseres Sohnes abgesehen, habe ich nie eine massive Beeinträchtigung von Seiten des Staates erfahren. Und offenbar wird man viel stärker von dem geprägt, was man persönlich erlebt, was einem widerfahren ist, als von dem, was man hört oder liest. Da überdies im Kalten Krieg die negativen Aspekte der jeweils anderen Seite maßlos übertrieben wurden, blieb man misstrauisch im Blick auf den Wahrheitsgehalt dessen, was man diesbezüglich hörte.

In den letzten Jahren wurden viele kritischen Auseinandersetzungen mit dem ostdeutschen Staat publiziert. Manche lesen sich so, als ob nach 1945 ostdeutsche Kommunisten auf den abenteuerlichen Gedanken gekommen seien, einen eigenen Staat ins Leben zu rufen. Die gesellschaftlichen   und    geschichtlichen Entwicklungen und Bedingungen, die dazu führten, werden ausgeklammert, wie ja allgemein das Wissen um historische Fakten und Abläufe immer mehr zu schwinden scheint. Auf der Konferenz in Potsdam hatten die Siegermächte 1945 die Entnazifizierung, Entmilitarisierung und Demokratisierung Deutschlands, sowie die Oder-Neiße-Linie als politische Westgrenze und die Aussiedlung der in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn verbliebenen Deutschen beschlossen. Außerdem wurde Deutschland in vier Besatzungszonen aufgeteilt, sollte aber weiterhin – darauf  legte vor allem die Sowjetunion Wert – als Einheit behandelt werden. Die schon bald erfolgende Aufkündigung der Antihitler-Koalition durch die Westmächte führte zur weiteren Vertiefung der deutschen Spaltung. In Bonn war man aber nicht bereit, sich auf das Wagnis eines neutralen Gesamtdeutschlands einzulassen, wie es die Sowjetunion 1952 vorschlug, und überließ damit die „Brüder und Schwestern in der Zone“ ohne Skrupel sowjetischer Dominanz. Ist aber nicht der Umstand, dass diejenigen, die die damit gegebene Situation in Ostdeutschland annahmen und versuchten, das Beste daraus zu machen, sich nach 1990 dafür verantworten mussten, diskriminiert wurden und etwa im Wissenschaftsbereich    ihre Arbeitsstellen verloren, eine Fortsetzung dieser Politik? Trotz    seiner   kurzen   Lebensdauer    war    der ostdeutsche Staat     manchen Wandlungen unterworfen. So ist es nicht verwunderlich, dass es unterschiedliche DDR-Bilder und -Erfahrungen gibt. Ich sehe allerdings einen deutlichen Unterschied zwischen solchen von Menschen, die noch Kriegszeit miterlebt haben, sich als junge Menschen inmitten der Trümmer wiederfanden, an den Neuaufbau gehen mussten und eine oft enthusiastische Aufbruchstimmung erlebten, und anderen, von denen, die in die DDR hineingeboren wurden, als Jugendliche eine bürokratisch erstarrte Gesellschaft vorfanden, die kaum Perspektiven bot und jugendlicher Unangepasstheit mit Repressionen begegnete. Ich gehörte zu jener Aufbaugeneration. Und auch wenn ich später manche Enttäuschung und Härten erlebte, völlig konnten meine Erfahrungen aus den Anfangsjahren davon nicht ausgelöscht werden. Und so blieb die DDR trotz allem bis zuletzt mein Staat. Aus diesem Grunde kann ich mich auch nicht gänzlich der Verantwortung für all das Negative, das von ihr ausging, entziehen, auch wenn ich daran nicht aktiv beteiligt war. Dabei fallen mir zwei Zeilen aus dem bewegenden, aber leider wenig bekannten Gedicht „Heimkehr“ von Johannes R. Becher ein, in dem es heißt: „So halt ich über meine Zeit Gericht, wobei mein ‚Schuldig!’ auch mich schuldig spricht.“

Nach dem Ende der DDR beobachtete ich mit Sorge die Wende, die sich in der CDU anbahnte und für die ein Sonderparteitag im Dezember 1989 in   Berlin    symptomatisch war. Überraschend tauchte da der CSU-Generalsekretär Erwin Huber auf. Er trat mit den Worten ans Rednerpult: „Ich komme von der Partei von Franz Josef Strauß“, woraufhin die Delegierten aufsprangen und dem Redner zujubelten. Ich gehörte zu den wenigen, die sitzen blieben. Wenn ich trotzdem noch weiter in der Partei blieb, dann, weil  der neue Vorsitzende Lothar de Maizière auf dem gleichen Parteitag erklärte, die erneuerte    CDU sei eine Volkspartei, und als solche brauche sie nicht nur einen rechten, sondern auch einen linken Flügel. In den folgenden Monaten bemühte ich mich mit einigen Freunden, einen solchen zu konzipieren. Wir formulierten einige Thesen und sandten sie an die Redaktion aller CDU-Zeitungen, aber nur eine, die „Union“ in Dresden, veröffentlichte sie. Die neue CDU wollte ganz offensichtlich keinen linken Flügel. Ich fühlte mich zunehmend unwohl in dieser Partei. Da lud mich nach der Wahl vom 18. März 1990 einer meiner  jüngeren Freunde, den de Maizière zum Leiter der Abteilung Außen- und Sicherheitspolitik im Amt des Ministerpräsidenten ernannt hatte, ein, dort als Referent für Entwicklungsländer mitzuarbeiten. Dazu war ich gern bereit, obwohl sich das allgemeine Interesse  an  der Lage jener Länder in der damaligen Umbruchsituation in Grenzen hielt. Mit Inkrafttreten des   Einigungsvertrages   am 3. Oktober 1990 stellte die DDR-Regierung ihre Tätigkeit ein. Dass ich mich nicht nach einer neuen Tätigkeit umsehen musste, sondern mit 63 Jahren in den Vorruhestand gehen konnte, empfand ich als großes Glück. Als Referent für Entwicklungsländer hatte ich eine Delegation der Afroasiatischen Völkersolidaritätsorganisation (AAPSO) zum Gedankenaustausch empfangen. Sie besuchte auf Einladung des DDR-Solidaritätskomitees Berlin, dessen Sekretär die Delegation begleitete. Dieser meldete sich nach einigen Wochen noch einmal bei mir mit der Frage, ob ich bereit wäre, bei der Konstituierung einer Nachfolgeorganisation für das Komitee für dessen Vorsitz zu kandidieren. Ich sagte zu, schien sich doch hier die Möglichkeit zu eröffnen, weiterhin auf Gebieten tätig sein zu können, die ich von der CFK-Arbeit her kannte. Außerdem  reizte es mich, für die Fortsetzung einer Tradition zu wirken, die zu den positiven  Aspekten der DDR gehörte. So wurde ich am 6. Oktober 1990 zum Vorsitzenden vom Solidaritätsdienst International e.V. (SODI) gewählt.

Anfang  der    90er    Jahre     vereinigten       sich die EmK Ost und West. Als die Mitglieder für die neugebildete Norddeutsche Jährliche   Konferenz gewählt wurden, erhielt ich von meiner Gemeinde das entsprechende Mandat. Ich habe in dieser Synode intensiv in den Ausschüssen für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung sowie für Ökumene mitgearbeitet und wurde zusätzlich in die   Arbeitsgemeinschaft für diakonische Aufgaben entsandt. Kirche und Entwicklungszusammenarbeit – das sind die beiden Bereiche, in denen ich jeweils bis 2002 ehrenamtlich aktiv war – und das mit großer Freude und tiefer Dankbarkeit. Denn dass man nach der „Wende“ auf Feldern eine sinnvolle Tätigkeit fand, die man von der Arbeit vorher kannte, ist den wenigsten DDR-Bürgern meiner Generation vergönnt gewesen.
Weltpolitisch führte der Zusammenbruch des Staats-Sozialismus dazu, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem sich global durchsetzte und die USA als nunmehr einzige Supermacht darangehen konnte, eine neue Weltordnung zu errichten. Was dies bedeutete, brachte der malaysischen Ministerpräsident Mahathir auf dem Gipfeltreffen der Nichtpaktgebundenen in Kuala Lumpur auf den Punkt: „Relieved of the need to compete with communists the capitalist  freetraders  have  ceased to show a friendly face. Their greed knows no bounds“. (Der Notwendigkeit enthoben, mit den Kommunisten zu konkurrieren, zeigen die kapitalistischen Freihändler kein freundliches Gesicht mehr, ihre Gier ist grenzenlos.) Und der renommierte britische Historiker Eric Hobsbawm sagte: „Die größte Nettowirkung der russischen Revolution war, den Kapitalismus zur Wohlfahrt zu bekehren“, was allerdings jetzt verspielt werde. Darauf ist ja häufig hingewiesen worden, dass es die  westlichen Wohlfahrtssysteme einschließlich der sozialen Marktwirtschaft wahrscheinlich ohne den Einfluss, den der Aufstieg des Staatssozialismus auf die Weltentwicklung ausübte, so nie gegeben hätte. Diese These wird durch den stetigen Abbau jener Systeme seit seinem Zusammenbruch bestätigt.

Die erste Hälfte der 90er Jahre war, was schnell in Vergessenheit geriet, eine Zeit großer   Hoffnungen und    Erwartungen. Nach dem Kollaps der Sowjetunion war die Ost-West-Konfrontation zu Ende. Man hoffte auf eine  Friedensdividende durch Abrüstung und eine Lösung der globalen Probleme, deren Gefahrenpotential wuchs. Das galt vor allem für die Klimaerwärmung. Seit 1972 die erste UN-Umweltkonferenz in Stockholm zusammengekommen war, hatte ich die Entwicklung auf diesem Gebiet mit wachsendem Interesse verfolgt. Dabei hatte ich festgestellt, dass immer mehr   Wissenschaftler eindringlich darauf hinwiesen, dass ökologische Prozesse grenzüberschreitend wirken und deshalb nur in grenzüberschreitender   Zusammenarbeit angegangen werden können. Deshalb riefen sie zur Überwindung der  Ost-West-Konfrontation und zu blockübergreifender Kooperation auf. Der einzige Staatsmann von Rang, der diese Gedanken aufgriff, war Michail Gorbatschow. Er bot dem Westen eine solche Kooperation an, wohl auch, weil er erkannte hatte, dass die   tiefgreifenden Probleme, die sich in seinem Land seit Jahrzehnten aufgestaut hatten, nur so einer allmählichen Lösung zugeführt werden könnten. Der Westen ging darauf nicht ein. Er wollte auf seinen Sieg im Kalten Krieg nicht verzichten und bestand auf den Zusammenbruch seines Konkurrenten. Vor allem schien er zu glauben, dass er nun die Überlegenheit seines Gesellschaftsmodells weltweit demonstrieren könne. Dabei war er blind für die Einsicht, dass  sein  Modell gesellschaftlich eine modernere und flexiblere Ausprägung des gleichen Typs Industrie darstellte, dessen zurückgebliebene Version eben gescheitert war. Heute sieht er sich vor ähnlichen Herausforderungen. Nach dem Ende des Kalten Krieges glaubte die UNO, das man jetzt den dringend notwendigen grundlegenden Neuanfang in der Umweltpolitik in Angriff nehmen könnte. Sie berief 1992 nach Rio de Janeiro den so genannten „Erdgipfel“ ein, auf dem in der Tat weitreichende und wegweisende Beschlüsse gefasst wurden, von denen wir heute wissen, dass sie nur sporadisch und höchst mangelhaft erfüllt wurden. Wie aber ging es mit mir weiter im neuen Deutschland?

In seiner Regierungserklärung hatte de Maizière gefordert, dass durch die Zusammenführung der beiden deutschen Staaten keinem anderen Land Schaden entstehen dürfte. Für SODI bedeutete das, die von der DDR eingegangenen Verpflichtungen in Entwicklungsländern zu erfüllen und die begonnenen Projekte zu Ende zu führen. Nach dem Einigungsvertrag versuchten die Verantwortlichen, vieles, was positiv an die DDR erinnerte, zu delegitimieren und abzuwickeln. Das traf auch unseren Verein. Auf Grund von Verleumdungen sollte SODI liquidiert werden. Gegen eine angedrohte Beschlagnahme unseres Vermögens legten wir Widerspruch ein und erzielten einen gerichtlichen Vergleich, in dessen Vollzug unsere Weiterarbeit gesichert wurde und wir mit einem großen Teil unseres aus Spenden von DDR-Bürgern herrührenden Vermögens die Stiftung Nord-Süd-Brücke ins Leben riefen, deren Erträge ausschließlich ostdeutschen entwicklungspolitischen Vereinen und Aktivitäten zugute kamen.  Diese Vorgänge hatten gezeigt, dass   SODI im vereinigten Deutschland nicht willkommen war, dass es sich aber auch hier zu kämpfen lohnte. Zunächst wurde SODI von allen Fördermöglichkeiten ausgeschlossen. Durch unsere engagierte und sachkundige Arbeit konnten wir dies verändern. Zum Beispiel hatten wir in Vietnam ein Projekt begonnen, das Minenräumen mit der Wiederansiedlung der früher dort Ansässigen kombinierte. Es entwickelte sich zu einem internationalen Vorzeigeprojekt und wurde schließlich vom Außenministerium kräftig unterstützt. Weil wir in Vietnam sehen konnten, zu welchen schlimmen Verletzungen und Verstümmelungen diese Waffen führen, wurde SODI als einzige ostdeutsche Organisation Mitglied der Deutschen Kampagne für das Verbot der Landminen, die ihrerseits Teil eines internationalen Zusammenschlusses war, der 1998 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde.
Auch in Südafrika wurde SODI tätig. Dort trifft man immer wieder Menschen, die sich dankbar an die Unterstützung ihres Befreiungskampfes durch die DDR erinnern, die in der DDR studierten oder eine Fachausbildung erhielten. Sie vergessen aber auch nicht, dass die westdeutsche Regierung damals das Rassistenregime in Pretoria unterstützte, während ihr der ANC und Mandela als Terroristen galten. (Nach der Wende musste ein Gymnasium in Ilmenau den Namen Nelson Mandela ablegen!) Selbst nachdem  die UNO die Apartheidpolitik international geächtet hatte, stärkten westdeutsche Konzerne durch intensive wirtschaftliche Kooperation die rassistischen Unterdrückungsstrukturen und verlängerten so deren Lebensdauer und damit das Leiden der Schwarzen und Farbigen. Wenn es um die Aufarbeitung jüngster deutscher Vergangenheit geht. Dann gehören neben den dunklen Seiten der DDR auch solche Tatsachen auf den Tisch. SODI erhält natürlich weit weniger Spenden als das Solidaritätskomitee, das in der DDR eine gewisse Monopolstellung hatte. Schon aus diesem Grunde konnten nicht alle früher geknüpften Verbindungen weitergeführt werden. 1992 organisierte SODI noch einmal ein Ferienlager für palästinensische Kinder. Dann aber musste die Zusammenarbeit mit der PLO eingestellt werden. Ich bedauerte das. Hatte ich mich doch bereits in der DDR im Rahmen einer CFK-Studiengruppe intensiver mit der Entstehung des Nahostkonfliktes auseinandergesetzt.

Im Zuge meiner kirchlichen Arbeit gewann ich jetzt ein vertieftes Verständnis alttestamentlicher Texte und des jüdischen Denkens überhaupt, so dass mir das Schicksal des Staates Israel nicht gleichgültig bleiben konnte. Ich sehe allerdings die Verantwortung von uns Deutschen für die Nahostpolitik viel umfassender als unsere Regierung. Der deutsche Faschismus plante die totale Vernichtung des jüdischen Volkes, und er begann diesen ungeheuerlichen Plan mit einer zynischen Konsequenz dort durchzuführen, wo seine Macht hinreichte. Die meisten derer, die sich in Europa diesem Schicksal durch die Flucht entziehen konnten, fanden Zuflucht in Palästina. Dieser massive Zustrom von Flüchtlingen gab den Ausschlag dafür, dass sich unter den früher dort eingewanderten Juden jene zum Teil militärisch organisierte Gruppen durchsetzten, die einen rassisch reinen Judenstaat anstrebten und ein Zusammenleben mit den einheimischen Arabern ablehnten. Um den 1947 durch die UNO (neben einen Palästinenserstaat) ins Leben gerufenen Staat  Israel zu   erweitern, setzten sie gezielt Gewalt ein, verübten Massaker, wie inzwischen von israelischen Historikern dokumentiert wurde, um Palästinenser zu vertreiben. Als Deutsche sind wir nicht unschuldig daran, dass dieser  Staat, der  vielen von  Hitler Vertriebenen   zur   Heimat wurde, so zustande kam. Deshalb kann sein Existenzrecht für uns nicht zur Diskussion stehen. Mitverantwortlich sind wir aber auch für das Schicksal der palästinensischen Seite, die im Grunde das Verbrechen Deutscher an Juden durch die unfreiwillige Hergabe eines Teils ihres Landes „bezahlen“ musste. Eigentlich hätten wir Deutschen – diese Überlegung hat Johan Galtung vor Jahren in die Diskussion eingebracht – einen Teil Deutschlands räumen und  den  Juden als   Wiedergutmachung   anbieten  sollen. Stattdessen haben die beiden deutschen Staaten jeweils die ihnen politisch nahestehende Seite unterstützt und so eher Konfrontation als Verständigung gefördert. Dabei müssten wir, wenn es um Frieden im Nahen Osten geht, eine kritische Haltung zu Israels Obstruktion des Friedensprozesses und seiner Siedlungs- und Besatzungspolitik einnehmen, sowie ein größeres Verständnis für das Grundanliegen der Palästinenser zeigen. Im März 1995 vertrat ich SODI beim UNO-Weltsozialgipfel in Kopenhagen. Neben dem Gipfeltreffen der Staatsvertreter versammelten sich   einige  Tausend   Abgesandte von Nichtregierungsorganisationen aus aller Welt, die die gleichen Herausforderungen wie die Regierungsvertreter von ihrem Erfahrungshintergrund her diskutierten. Das war beeindruckend. Es gibt offensichtlich kein Weltproblem und auch keine brennende Spezialfrage, für die sich nicht in vielen Ländern Studien- und Aktionsgruppen gebildet haben. Mir wurde damals klar, wie wichtig die Mitarbeit in einer solchen Gruppe ist. Sie erweitert das Weltbild und vermittelt erste Erfahrungen in gesellschaftlicher Praxis und kann dadurch Lust auf politisches Engagement machen.

Im März 1997 nahm ich an einer internationalen Konferenz in Kairo teil, die mir vor allem die kulturell-ideologischen Auswirkungen der Globalisierung vor Augen führte. Die AAPSO hatte 250 Wissenschaftler, Künstler, Politiker und Vertreter von Solidaritäts- und Befreiungsorganisationen eingeladen; die meisten kamen aus den Ländern des Nahen Ostens. Unter der Frage „Zusammenprall der Zivilisationen oder Dialog der Kulturen?“ sollten sie sich mit den damals heftig diskutierten Thesen des US-Amerikaners Samuel Huntington auseinandersetzen, der einen Kampf der Kulturen für unvermeidlich hielt. Ich war eingeladen, über Erfahrungen bei der  Transformation vom Sozialismus zum Kapitalismus in Ostdeutschland zu berichten. Der Konferenz ging es besonders darum, den Widerstand gegen die „Macdonaldisierung der Welt“ zu mobilisieren, die vor allem   die   Kulturen der Entwicklungsländer bedroht, weil sie die geschichtlichen     Erinnerungen auslösche und zu einer geistigen Nivellierung führen. Das Weltkapital, so hieß es, das noch nie so mächtig gewesen sei wie gegenwärtig, habe ein Interesse daran, Menschen zu Konsumenten und Zuschauern zu machen und sie damit bewusst oder unbewusst von Aktionen zu Veränderungen abzuhalten. In meiner   Überzeugung, dass   die    Krisenphänomene unserer Zeit in der ökologischen Problematik kulminieren und dass diese deshalb zur zentralen Herausforderung für die heutige Generation werde, fühle ich mich bestärkt durch den Atomphysiker Hans-Peter Dürr, den ich für einen der kreativsten Denker unserer Zeit halte. Zum ersten Mal erlebte ich ihn in einem Fernsehinterview, nachdem er 1987 für seinen wissenschaftlich begründeten Widerspruch gegen die Pläne von US-Präsident Reagan, Waffensysteme im Weltraum zu stationieren, mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet worden war. Später las ich einige seiner Publikationen und begegnete ihm zweimal persönlich auf Tagungen. Dürr geht von einer paradoxen Erfahrung aus, die uns Durchschnittsbürgern nur deshalb verschlossen ist, weil es bisher noch kaum Bemühungen gab, allgemein einsichtig zu machen,   was die inzwischen hundert Jahre alten umstürzenden Erkenntnisse der modernen Physik, d. h. der Quantenphysik für unser Weltbild und damit für unser Leben bedeuten. Das genau versucht Dürr, indem er etwa feststellt: “Die Grundlage unserer Welt ist nicht materiell, sondern geistig“. Konkret: der Dualismus von Materie und Geist ist überholt. Die Welt ist weniger „Realität“ als „Potenzialität.“ Die Frage ist nicht “was ist?“, sondern „was passiert? was wirkt?“. („Wirk“lichkeit). Die Schwierigkeit   liegt darin, dass   sich das alles zwar mathematisch klar erfassen lässt, dass aber unsere Sprache (noch) nicht ausreicht, dieses Neue angemessen zu beschreiben. Wir brauchen eine andere Sicht der Natur, der wir als Menschen nicht gegenüberstehen, sondern in die wir eingebunden sind. Es kommt darauf an, die Potenzialität, die in allem steckt, durch Miteinander, Empathie und Hilfe voll zur Wirkung kommen zu lassen. „Das Lebendige lebendiger werden zu lassen“, sei die Grundmaxime, meint Dürr. Was ihn umtreibt und worin die paradoxe Erfahrung besteht, liegt in dem Umstand, dass in den westlichen Gesellschaften jene neuen physikalischen Einsichten, die zu größerer Offenheit, Experimentierfreudigkeit und Flexibilität ermutigen,   bisher zur Verstärkung entgegen gesetzter Trends genutzt wurden und werden. Das Symbol dafür ist die Atombombe: statt gesteigerter Lebendigkeit Androhung von Vernichtung und Tod. Es verfestigte sich die Meinung, dass die Voraussetzung für den Weltfrieden eine wachsende Machtkonzentration sei. Das führte zu einer Eskalation von struktureller Gewalt – militärisch, politisch und wirtschaftlich – und rief als Reaktion terroristische Gewalt hervor. 2005 gehörte Dürr zu den Initiatoren des Potsdamer Manifestes. In Erinnerung an das Einstein-Russel-Manifest zur Verhinderung eines Atomkrieges, in dem vor 50 Jahren zum ersten Mal Naturwissenschaftler zu „Neuem Denken“ aufgerufen hatten, versammelten sich in Potsdam weit über hundert Wissenschaftler unterschiedlicher Fachrichtungen aus allen Kontinenten, darunter zwanzig Träger des Alternativen Nobelpreises, um dieses Manifest unter dem Motto “Wir müssen lernen, auf neue Weise zu denken“ samt einer erläuternden Denkschrift zu erarbeiten.  
Diese Denkschrift nennt als den gegenwärtig gewichtigen Faktor, von dem strukturelle Gewalt ausgeht, die „hoch zentralisierte Realwirtschaft“ unddie “weltweit eng verflochtene Finanzwirtschaft“. Sie habe die militärische Macht auf die zweite Stelle verwiesen und dienstbar gemacht. Man mache sich nur klar, wie viel Kreativität dadurch unterdrückt oder ganz ausgelöscht, dass weltweit Millionen von Menschen die Arbeitsmöglichkeiten   verweigert werden, Kreativität, die zur Bewältigung der großen Herausforderungen, vor denen die Menschheit steht, dringend gebraucht wird.
Das Potsdamer Manifest und die Denkschrift sind von der medialen Öffentlichkeit kaum, von Politik und Wirtschaft gar nicht zur Kenntnis genommen worden. Sie bewegen sich noch voll auf den Gleisen des alten Denkens. Für die Verfasser ist das kein Grund zum Pessimismus. Sie schließen ihre Denkschrift mit folgenden Sätzen: “Unsere Zuversicht ist nicht ohne Basis. Wir müssen fortfahren, neues Wissen zu schaffen, das Lebendigkeit vermehrt erblühen lässt. Wir können uns darauf verlassen, dass diese Kraft in uns wirkt. Denn die Allverbundenheit, die wir Liebe nennen können und aus der Lebendigkeit sprießt, ist in uns und in allem Anderen von Grund auf angelegt.“ Viele dieser Probleme wurden auch in den Kirchen diskutiert. Zunächst jedoch hatten die ostdeutschen Kirchen damit zu tun, sich in dem veränderten gesellschaftlichen Umfeld zurechtzufinden. Bei der Vereinigung mit dem DDR-Kirchenbund bestand die EKD darauf, dass ihre „bewährten“ Verfahrensweisen und Regelungen übernommen werden müssten. Die    teilweise nur in einigen Landeskirchen in der DDR eingeführten Neuregelungen, etwa in der christlichen Unterweisung oder bei der Tauf- und Konfirmationspraxis, wie sie angesichts der im Osten fortgeschritteneren Säkularisierung mit Erfolg erprobt worden waren, mussten aufgegeben werden. Die EKD meinte, darauf bestehen zu können, hatte sie doch die DDR-Kirchen nicht unerheblich finanziell unterstützt, was eines der bestgehüteten Geheimnisse in Ost und West war. Vertreter der DDR-Regierung und der Kirchen hatten 1957 vereinbart, dass   die EKD Waren    für die DDR einkaufte, wofür diese entsprechende Summen an die Kirchen überweise. Zu Anfang ging es um Steinkohle. Später kamen auch Güter hinzu, die auf westlichen Embargolisten für den Ostexport standen, etwa Kupfer. Über diese Zusammenarbeit gab es keinerlei schriftlichen Verträge, nur mündliche Abmachungen, sie funktionierten aber offensichtlich reibungslos und versorgten die DDR-Kirchen mit dem Gegenwert von ca. acht Milliarden DM im Verhältnis 1:1,2. (Der von der EKD damit Beauftragte Ludwig Geißel legte 1991 seine   Erinnerungen   „Unterhändler der Menschlichkeit“ vor.)

Die ostdeutschen Kirchen waren seit 1990 vom staatlichen Druck befreit, was vor allem in Westdeutschland die Erwartung schürte, dass der Kirchenbesuch ansteigen und das kirchliche Leben aufblühen werde. Tatsächlich jedoch kam es zu einem allmählichen Rückgang der Zahl der Kirchenglieder. Das hing einmal damit zusammen, dass in der volkskirchlichen Vorkriegssituation sehr viele Mitglieder nur noch eine schwache Bindung an die Kirche hatten, die unter den Belastungen der DDR-Zeit schnell aufgegeben wurde. Zum anderen wurde der Abwanderungstrend Richtung Westen nach 1990 kaum gestoppt. Die zunehmende Arbeits- und Perspektivlosigkeit veranlasste auch viele Christen, ihre Heimat zu verlassen.

Was den geistlichen Zustand der Gemeinden anlangt, so empfand ich ihn früher streckenweise als gesünder. In der DDR musste man wissen, dass und warum man Christ ist, warum man trotz einer gewissen gesellschaftlichen Kirchenfeindlichkeit zur Kirche hielt. Deshalb standen die Bibel und die existentiellen Grundlagen christlichen Glaubens mehr im Zentrum des Gemeindelebens als das heute meist der Fall ist. Ausstattung und Zuschnitt kirchlicher Arbeit waren viel bescheidener, aber uns plagten viel weniger Geldsorgen. Ich war natürlich weiterhin in unserer Gemeinde aktiv. Da ich jetzt mehr Zeit hatte, predigte ich öfter. Dabei bestätigt sich mir die alte Erfahrung, dass der Prediger zumeist den größten Gewinn aus seiner Predigt zieht. Muss er sich doch intensiv mit biblischen Texten, ihrem Umfeld und Hintergründen beschäftigen. Oft erschließt sich bei dieser Arbeit ein überraschender Gegenwartsbezug. Neben meinen Aufgaben in der Synode verfolgte ich die ökumenische Diskussion und versuchte, mich gelegentlich da einzubringen. So etwa bei der Erörterung eines kirchlichen Sozialwortes.
1994 hatten der Rat der EKD und die katholische Deutsche Bischofkonferenz den Entwurf eines solchen Wortes vorgelegt. Es wurde in 400 000 Exemplaren gedruckt und mit der Aufforderung zur Diskussion verteilt. Nach einem Jahr wollte man unter Auswertung der eingegangenen Diskussionsbeiträge einen endgültigen Text vorlegen. Inzwischen waren die sozialen Verwerfungen, die der Anschluss der DDR besonders wirtschaftlich verursacht hatte, mit Händen zu greifen. Gleichzeitig zeigten sich erste negative Auswirkungen der Globalisierung, die sich nun weltweit ungebremst entfalten konnte. Es entwickelte sich eine lebhafte Auseinandersetzung, an der sich nicht nur Christen beteiligten. Ich meldete mich mit einem Beitrag zu Wort, in dem ich forderte, nicht nur die Armut zu bekämpfen, was in der Praxis häufig auf eine Bekämpfung der Armen hinauslaufe. Priorität müsse der Bekämpfung des Reichtums zukommen. In dem endgültigen Text, wurde dazu formuliert: “Nicht nur Armut, sondern auch Reichtum muss ein Thema der politischen Debatte sein. Umverteilung ist gegenwärtig häufig die Umverteilung des Mangels, weil der Überfluss auf der andern Seite geschont wird“. Außerdem wird gesagt: “Es bedarf nicht nur eines regelmäßigen Armutsberichts, sondern darüber hinaus auch eines regelmäßigen Reichtumsberichts“ – eine Forderung, die bis heute nicht erfüllt ist. Überhaupt enthält das hundert Seiten umfassende Wort „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ Aussagen, deren Klarheit und Konkretheit in keiner der seither veröffentlichen offiziellen kirchlichen Verlautbarungen mehr  erreicht wurde. Theologisch wurde die vorrangige Option für die Armen unterstrichen: „Jesus Christus macht    die Entscheidung über die endgültige Gottesgemeinschaft der Menschen abhängig von der gelebten Solidarität mit den Geringen.“ Die United Methodist  Church, zu der die Evangelisch-methodistische Kirche in Deutschland gehört, ist eine globale Organisation. Sie hat die meisten Mitglieder in den USA, aber auch Gemeinden in fast allen Ländern der Erde. Ihre Bischöfe und Bischöfinnen bilden einen Bischofsrat. Dieser hat 1995 einen Pastoralbrief an alle Gemeinden weltweit zum Thema „Kinder und Armut“ gerichtet. Damit wollte er auf die verletzlichsten Bevölkerungsgruppen aufmerksam machen. Er ging davon aus, dass nach dem Zeugnis der Bibel sich Jesus besonders für die Armen und die Kinder einsetzte. Wer ihm begegnen wolle, müsse mit den Armen solidarisch werden. Die Gemeinden wurden aufgefordert, Armen beizustehen. Da es heute nicht nur ausreichend Lebensmittel gebe, sondern auch die technischen Möglichkeiten vorhanden seien, alle Menschen zu erreichen, sei  es   ein   besonders    schweres Vergehen, Menschen und besonders Kinder verhungern zu lassen. In zwei Berliner Gemeinden haben wir uns intensiv mit dem Brief und seinen Konsequenzen beschäftigt. Leider hat das nur zu bescheidenen Veränderungen im Gemeindeleben geführt. In unserer Christus-Gemeinde fand sich im Anschluss daran eine Gruppe zusammen, die bis heute Veranstaltungen und Aktionen zu politischen und ökologischen Problemen vorbereitet. Offensichtlich war auch weltweit der Erfolg des Pastoralbriefes gering. Deshalb ließen die Bischöfe 2001 und 2003 zwei weitere Briefe zum selben Thema folgen. Unter Berufung auf den Kirchengründer John Wesley hatten sie in ihrem ersten Brief einen Satz formuliert, der auch als Erklärung für die gegenwärtige Lage der Christenheit in Europa gelesen werden kann: „Wesley erachtete Wohlstand als die ernsthafteste Bedrohung der fortdauernden Lebenskraft und Glaubenstreue der methodistischen Bewegung“.

Die ökumenische Bewegung fühlte sich gleichfalls durch die Globalisierung herausgefordert. Da brachte 2004 die in Accra tagende Vollversammlung der Reformierten einen bemerkenswerten neuen Impuls in die Diskussion. Sie hatte eine schwerwiegende Frage zu beantworten. Denn zehn Jahre zuvor hatten seine afrikanischen Mitgliederkirchen angesichts der negativen Auswirkungen der Globalisierung für  Afrika  die   Frage aufgeworfen, ob ein Wirtschaftssystem, das zu einer immer intensiveren Ausbeutung und damit zu Verelendung   von Menschen führe, etwas mit dem christlichen Glauben zu tun habe. Konkret: Ob diejenigen, die von dieser Ausbeutung reich und reicher würden, und die anderen, denen damit mehr und mehr Lebensmöglichkeiten  beschnitten würden, als christliche Brüder und Schwestern in der gleichen kirchlichen Gemeinschaft zusammenleben könnten. Der Weltbund hatte die Kirchen auf den andern Kontinenten gebeten, die Fragen ebenfalls zu bedenken. Als Ergebnis verabschiedete man in Accra eine Erklärung, deren Kernsätze lauten: „Wir glauben, dass Gott über die ganze Schöpfung regiert. ‚Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist‘ (Ps 24,1). Darum sagen wir Nein zur gegenwärtigen Weltwirtschaftsordnung, die vom globalen neoliberalen Kapitalismus aufgezwungen wird, und zu jedem anderen Wirtschaftssystem einschließlich der  Planwirtschaft, das sich Gottes Bund widersetzt, indem es die Armen, die Verwundbaren und die ganze Schöpfung von der Fülle des Lebens ausschließt. Wir lehnen jeden Anspruch eines wirtschaftlichen, politischen und militärischen Imperiums ab, das Gottes Herrschaft über das Leben untergräbt und gegen die gerechte Herrschaft Gottes handelt.“ Damit war zum ersten Mal in der Ökumene   eine Wirtschaftsfrage zur Glaubens-,  ja    Bekenntnisfrage gemacht worden. Das löste Diskussionen und in europäischen Kirchen auch Widerspruch aus. Auch in der EmK erörterten wir diese Fragen. Mein Mandat als Mitglied der Synode lief bis 2003. Auf dieser meiner letzten Tagung forderte der Ausschuss für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung auf meine Anregung hin, dass die Synode Probleme der Globalisierung auf einer ihrer nächsten Zusammenkünfte zum Hauptthema machen solle. Das wurde für 2005 beschlossen. Ich wurde dafür in den Vorbereitungsausschuss gewählt. Es gelang uns, einen südafrikanischen methodistischen Bischof, mit dem wir als SODI zusammengearbeitet hatten, als Hauptreferenten zu gewinnen. Vertreter einschlägiger kirchlicher und säkularer Gruppen wurden als Gesprächspartner eingeladen. Es war eine bewegende Tagung. Nur an der kirchlichen Basis hat sie leider wenig bewegen können, zumal sich Finanzprobleme immer mehr in Vordergrund schoben. 

Mein alter Freund Bruno Schottstädt hat auch im Ruhestand noch Neues angestoßen und ausprobiert. Nachdem er mit seiner Frau in den 90er Jahren nach Wethen gezogen und dort in eine christliche Kommunität eingetreten war, veranstalte er Jahr für Jahr „Ökumenische Seniorenseminare“. Er lud alte Freunde aus dem In- und Ausland ein, um mit ihnen kritisch Rückblick auf unsere Wege zu halten und im Lichte ihrer Erfahrungen die neuen Entwicklungen zu diskutieren. Ich habe mit großem Gewinn an all diesen Seminaren teilgenommen und das letzte, das er – gezeichnet von seiner schweren Krankheit – nicht mehr besuchen konnte, geleitet und zu Ende gebracht.

Von den hier beschriebenen Entwicklungen ist in den Gemeinden bisher wenig angekommen. Getragen werden sie von ökumenisch aufgeschlossenen Gruppen und Initiativen. Das heißt nicht, dass sich an der kirchlichen Basis nichts verändert hätte. Mitgliederschwund und knapper werdende Finanzen haben teilweise einschneidende Veränderungen erzwungen. Auch gibt es eine Reihe kirchlicher Reformprogramme. Nach meiner Sicht leiden sie alle darunter, dass sie die Abkehr von der Volkskirche nicht auf die Tagesordnung setzen. Das dürfte vor allem darin begründet sein, dass der umfangreiche kirchliche Verwaltungsapparat, die Konsistorien, die Administrationen für diakonische und pädagogische Einrichtungen und viele andere Institutionen, wie sie im Laufe der Geschichte entstanden sind, zwar schon kräftig abspecken mussten, aber doch so zählebig sind, dass sie den Weg zu einer anderen Gestalt der Kirche nur schwer freigeben. Eine Kirche, die aus selbstständigen, lebendigen Gemeinden, christlichen Kommunitäten und projektbezogenen Arbeitsgruppen ohne diesen administrativen Überbau besteht. Selbst die Freikirchen orientieren sich oft unbewusst noch am volkskirchlichen Leitbild. Die Volkskirche ist im christlichem Abendland selten Kirche des (mündigen) Volkes, sondern mehr Staatskirche gewesen, wie sie durch den römischen Kaiser Konstantin gegründet wurde, der im 4. Jahrhundert das bis dahin verfolgte Christentum zur Staatsreligion machte, was gleichzeitig zum Verbot aller anderen Religionen führte. Das hat die Geschichte des Abendlandes bestimmt, eine eindrucksvolle christliche Kultur geschaffen, aber die wahre Stimme des Evangeliums häufig verdeckt, ins Abseits gedrängt oder verfälscht. Diese Tradition wirkt bis heute nach. Vor drei Jahren hat mich ein Zeitungsaufsatz neu auf diese Problematik aufmerksam gemacht. Seitdem beschäftigt sie mich, was ich gegen Ende dieses Rückblicks noch darstellen möchte. Jener Aufsatz bezieht sich auf die letzte Veröffentlichung des renommierten US-amerikanischen Philosophen Richard Rorty mit dem Titel „Knospen, die sich nicht öffnen“. Das Bild verweist auf Konstellationen, die der Geschichtsverlauf ermöglichte, die jedoch nicht wahrgenommen wurden. Eine solche Möglichkeit beschreibt er so: „Man kann sich ein 20. Jahrhundert vorstellen, in dem zwei Weltkriege und die große Depression vermieden,  die bolschewistische Revolution zusammengebrochen und Sozialdemokraten wie Eugene Debs und Jean Jaures in hohe Staatsämter gewählt worden wären – dank des Engagements der christlichen Kirchen.“ Nach dieser Sicht trägt das nicht zustande gekommene Bündnis zwischen Kirche und sozialdemokratischer Arbeiterbewegung eine Mitschuld an den Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Natürlich ist das Spekulation. Aber auf die Frage, wer die Hauptschuld daran trägt, dass dieses von der Sache her sich dringlich anbietende Bündnis versäumt wurde, gibt es zumindest für Deutschland eine eindeutige Antwort: die Kirche. Der Sozialdemokratie ging es um soziale Gerechtigkeit und Frieden, zwei Inhalte, die die biblische Botschaft immer wieder als Ziele sozialer Glaubenspraxis nennt. Für die Kirchen jedoch war, getreu jener konstantinischen Tradition, das Bündnis mit den Herrschenden wichtiger. Ein Zusammengehen mit den „gottlosen Vaterlandsverrätern“ der Sozialdemokratie, lag für sie außerhalb jeder bloßen Denkmöglichkeit. Für Jesus allerdings ist der Mammon der eigentliche Gegengott und nicht eine theoretische Leugnung seiner Existenz. Die Bibel sieht im Götzendienst, also in einem Tun, das die Inhalte der biblischen Botschaft verneint, den eigentlichen   Abfall von    Gott. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich, dass 1956 in Ostberlin eine außerordentliche EKD-Synode stattfand, auf der der damalige Cottbusser Generalsuperintendent Günter Jacob, einer der kreativsten theologischen Denker in der DDR, ein viel beachtetes Referat hielt über „Das Ende des Konstantinschen Zeitalters der Kirche“. Das war noch vor meiner Berliner Zeit. Aber die „Neue Zeit“ veröffentlichte den Wortlaut des Referats, und es beeindruckte mich schon damals. Jacob spannte einen weiten Bogen von der Antike bis in die Gegenwart und zeigte, wie das Bündnis zwischen Staat und Kirche unter mancherlei Wandlungen bis heute in Europa nachwirkt. Denn auch nach der Reformation und der Entstehung der Nationalstaaten entdeckten die Regierenden, wie günstig es ist, sich für die Herrschaftsausübung dieses Bündnisses zu versichern.

Da drängt sich allerdings die berühmte Frage auf: „Was würde Jesus dazu sagen?“  Er wurde von     der    römischen Besatzungsmacht unter nachdrücklicher Zustimmung der jüdischen Autoritäten als politischer Aufrührer hingerichtet. So ist es nicht verwunderlich,  dass dieses Bündnis die Kirche teilweise bis in die Substanz  der Verkündigung hinein veränderte. Tissa Balasurya, ein bemerkenswerter katholischer Ordensgeistlicher aus Sri Lanka, dem ich mehrfach auf CFK-Tagungen begegnete, hat dieser Problematik als Nachfahre von Menschen, die mit dem Christentum im Kontext des Kolonialismus konfrontiert wurden, mehrere Studien gewidmet. In einer stellte er fest: „Die Bekehrung des römischen Imperiums zum Christentum korrespondiert mit der Bekehrung der Kirche zu den Werten dieses Imperiums. Das führte zum Kompromiss mit Cäsar, Mammon und Mars, den Göttern der Macht, des Reichtums und des Krieges (…) Bis heute sind die gravierenden Abweichungen vom biblischen Glauben, die dadurch in der Theologie bewirkt wurden, nicht wirklich analysiert worden.“ Gott sei Dank   konnte dieses Bündnis die Stimme des unverfälschten Evangeliums nicht ganz zum Schweigen bringen. Sie erklang an den Rändern der Kirche und im Untergrund. Sie manifestierte sich im Zeugnis und den karitativen Taten vieler Stiller im Lande. Und sie brachte immer wieder Bewegungen hervor, die von den Kirchen häufig als Ketzer verfolgt wurden, wie etwa die Waldenser. Im Kampf gegen letztere erfand die Papstkirche die Inquisition. Es charakterisiert die mit dem Staat verbundene Kirche, dass sie nie die innere geistliche Kraft fand, dieses kompromittierende Bündnis aufzukündigen. Wo dies in Einzelfällen passierte, etwa in der  französischen Revolution von 1789, geschah das durch den Staat. Auch als nach dem I. Weltkrieg die Weimarer Republik daran ging, diese Verbindung zu lockern, geschah das gegen den Willen der Mehrheit der deutschen Protestanten, die dann 1933 den „nationalen Aufbruch“ des  deutschen Faschismus begrüßten. Und nach 1945 war es im Osten Deutschlands ebenfalls die Staatsmacht, die die Trennung vollzog. Günter Jacob begriff  dies 1956 als Befreiung, die allerdings von den Kirchen ergriffen und gestaltet werden müsse. In den vierzig Jahren DDR gab es gegen den mentalen Widerstand mancher kirchlicher Kreise erste bescheidene Schritte in diese Richtung, die allerdings nach 1990 teilweise wieder rückgängig gemacht wurden. In Westdeutschland bestand zwar eine formale Trennung, sie wurde allerdings in der Praxis durch manche Privilegien der beiden Großkirchen verdeckt, etwa, dass der Staat für sie die Steuern einzieht. Was sind aber die heute noch nachwirkenden theologischen Abweichungen, die auf den Konstantinismus zurückgehen. Helmut Gollwitzer beschreibt in seinem zweiten Buch „Krummes Holz – aufrechter Gang“ die wichtigste als „Verdrängung des Christlichen aus der gesellschaftlichen Praxis in die Innerlichkeit und ins Individuelle – natürlich nicht vollständig, aber doch so gründlich, dass heute Christentum als gesellschaftliche Praxis erst wieder entdeckt werden muss.“

In der Tat: Im Zentrum der Hebräischen Bibel steht die Thora (die fünf Bücher Mose), die Weisungen für die individuelle und soziale Lebenspraxis enthalten. Und Jesus hält denen entgegen, die sich mit dem Bekennen begnügen wollen: „Was nennt ihr mich aber Herr, Herr und tut nicht, was ich euch sage?“ (Lk 6, 46). Ganz in diesem Sinne ist für Gollwitzer der Glaube    Praxis: „soziale Praxis“. Für die soziale Praxis jedoch sind seit Konstantin der Kaiser, seine Statthalter und Beamten und überhaupt die Obrigkeiten zuständig. Die Christen sollten Gottesdienst feiern und beten – auch für den Kaiser und das Imperium. Und die Theologen konnten debattieren, sich streiten über die richtige Glaubensauffassung. In der Tat wurde das Jahrhunderte eine Art Ersatz für die verwehrte gesellschaftliche Praxis. Von daher gehört die Überbetonung des Glaubens, des Theoretischen, des Wortes, ja auch der Spiritualität zum Erbe des Konstantinismus, was zur Entwertung der   gesellschaftlichen  Praxis, des Tuns des Wortes führte. Darin wurzelt gleichfalls die traditionelle politische Abstinenz vieler Christen, die de facto eine politische Parteinahme für das Bestehende ist. Einen weiteren folgenschweren Eingriff in die biblische Botschaft in der Zeit des Konstantinismus sehe ich darin, dass die „Sozialgesetzgebung“ der hebräischen Bibel, wie sie sich etwa in Buch Leviticus (3. Mosebuch), im Heiligkeitsgesetz (19. Kapitel) und in den Festlegungen zum Sabbat- und Erlassjahr (25. Kapitel) finden, völlig ignoriert bzw. als zeitbezogen jüdisch abgetan wurden. Vor allem aber wurde das Zentrum der Verkündigung und des Handelns Jesu, die Botschaft vom Reich Gottes entwertet und zurückgedrängt. In den offiziellen Glaubensbekenntnissen heißt es von Jesus nur, dass er von einer Jungfrau geboren sei, unter Pontius Pilatus gekreuzigt wurde und nach drei Tagen auferstanden und in den Himmel aufgefahren sei. Kein Wort von Gerechtigkeit, Friede und volles Genüge für alle Menschen wie es für das Reich Gottes zugesagt ist, was zwar erst am   Ende   der Zeiten voll Wirklichkeit werden wird, aber heute schon Maßstab und  Orientierung für die gesellschaftliche Praxis von Menschen ist. Niemand kann wissen, wie viele Gelegenheiten, bei denen   Christen dem Geschichtsverlauf    im Sinne Rortys eine positive Wende hätten geben können, dadurch versäumt wurden, dass man die Reichs-Gottes-Botschaft ignorierte bzw. den „Ketzern“ überließ.

Beim Nachdenken über mein Leben und meine Zeit, ist mir immer wieder deutlich geworden, wie stark mich die DDR-Zeit geprägt hat. Ehrlich gesagt, möchte ich diese Erfahrung auch nicht missen. Freilich haben mich Nachforschen und Nachdenken zu der Überzeugung gebracht, dass es sich bei jenem Staatsgebilde, das im Ergebnis des II. Weltkrieges und in der Zeit des beginnenden Kalten Krieges entstanden ist, um ein Konstrukt handelt, das im Grunde nicht überlebensfähig war – zumal nicht im Kalten Krieg. Vielleicht hätte es in Zeiten friedlichen Wettstreits eine solche Chance gehabt. Aber solche Zeiten hat es nie erlebt. Vom ersten Tag ihrer Existenz in der ohnehin prekären Nachkriegssituation an stand die DDR unter einem massiven ökonomischen, politischen und psychologischen Druck, der sie, die selbst ungefertigt war, zu Abwehrreaktionen zwang, die die positiven Neuansätze wieder zunichte machten. Wenn man sich dies alles klarmacht, dann muss man dankbar dafür sein, dass das Ende der DDR friedlich vonstatten ging, auch wenn das natürlich keine Rechtfertigung für die Härten und Ungerechtigkeiten bedeutet, die damit verbunden waren. Die Zukunft wird ohnehin einer Gesellschaft gehören, die     die Alternative Kapitalismus-Sozialismus hinter sich lässt. Es geht darum, den technologisch-industriellen Entwicklungspfad, den auch die DDR eingeschlagen hatte, zu verlassen. Die Menschheit verfügt zwar über das Potential, die schwierigen Probleme, die vor ihr liegen, zu lösen. Das ist jedoch kein Grund zu einem flachen Optimismus nach dem Motto: „Es wird schon alles gut werden“. Die rückwärts gewandten Gegenkräfte sind stark. Die Destruktivkräfte, die sich inzwischen nicht nur im Militärischen, sondern auch in der Ökonomie, im Sozialen und Psychologischen angesammelt haben, können jede Zukunftsperspektive zunichte machen, sie zu entschärfen und nach Möglichkeit ins Positive zu wenden, erfordert riesige Anstrengungen. Heinrich Mann rief Ende der 30er Jahre angesichts der faschistischen Kriegsgefahr in Paris auf einer Kundgebung von Kulturschaffenden aus: „Der Friede kommt nicht von allein. Für ihn muss man immerfort arbeiten und kämpfen. Von allein kommt nur der Krieg.“ Das gilt mutatis mutandis auch heute. Eine große Gefahr liegt in der Passivität und Gleichgültigkeit vieler. Wir brauchen Offenheit und Zusammenarbeit, die keinen ausschließt. Als junger Mensch hatte ich nie einen konkreten Berufswunsch oder einen festen Lebensplan. Ich ließ die Dinge an mich herankommen und entschied mich dann. Umso dankbarer bin ich, dass ich im Rückblick auf mein Leben bekennen kann:

Es war trotz Irrtümer und Schmerzen gut und schön und reich und – dass ich bewahrt und geführt worden bin. Anfang 1946 musste ich eine Erfahrung machen, die ich erst später richtig einordnen konnte. Es   war   während    des  Neulehrerkurses, als eines Tages bei uns zu Hause ein Mitarbeiter der sowjetischen Kommandantur erschien und    mich    aufforderte, zu einem Gespräch mitzukommen. In der Kommandantur wurde ich ohne Angaben von Gründen in eine Zelle eingeschlossen und später mit einem PKW nach Auerbach in das dortige Gefängnis gebracht. Ein mir völlig Unbekannter hatte behauptet, ich sei an einer Verschwörung zur  Ermordung des sowjetischen Stadtkommandanten von Reichenbach beteiligt. Bei einer Gegenüberstellung mit ihm sagte er: „Ja, das ist er“. Trotz meiner Unschuldserklärung wurde ich wieder in meine Zelle gebracht. Am folgenden Tag wurde ich mehrfach durch sowjetische Offiziere verhört. Gegen Abend wurde ich abermals aus meiner Zelle geholt. Es war diesmal ein dritter junger Deutscher dabei, der offensichtlich die Glaubwürdigkeit des ersten erschüttert hatte. Jedenfalls wurde mir erklärt, dass ich nach Hause gehen könnte, was ich in einem 15km Fußmarsch ohne Schnürsenkel in den Schuhen tat. Bei den Nachforschungen, die meine Eltern inzwischen angestellt hatten, wurde ihnen von deutschen Behörden erklärt, sie könnten sich in Angelegenheiten der Besatzungsmacht nicht einmischen. Mir war damals überhaupt nicht bewusst, in welcher Gefahr ich schwebte und dass ich keineswegs der einzige Unschuldige gewesen wäre, der für Jahre in einem sowjetischen Arbeitslager verschwand. Im Rückblick kann ich das nur als Bewahrung und Führung sehen. Durch meine Arbeit in CFK und Ökumene habe ich zahlreiche Freunde auch aus anderen Ländern und Kontinenten gewonnen. Und was bereichert ein Leben, wenn es nicht die Freunde sind.
Vor allem aber muss ich ein Wort zu meiner Frau Esther und meiner Familie sagen. Durch meine Frau habe ich den Weg zur Kirche gefunden. Ihr Einfluss war entscheidend dafür, dass ich 1957 nach Berlin ging. Während ich dann – häufig auch am Wochenende – unterwegs war, zunächst im Land und dann auch außerhalb, blieb sie bei den Kindern zu Hause. Sie trug die Hauptlast der Erziehung unseres Sohnes und der beiden Töchter und hatte zunächst in Berlin  kaum   Freunde. Als  die    Kinder größer   waren, konnte sie  endlich   wieder berufstätig werden. Als Lehrerin fand sie eine Anstellung in der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften. Dort leitete sie das Büro, das die anfallenden Übersetzungen organisierte. Sie fand hohe Anerkennung bei ihren Kolleginnen und Kollegen, meist SED-Mitglieder; mit ihnen blieb sie auch im Ruhestand freundschaftlich verbunden. Meine Entwicklung verfolgte sie kritisch, sie holte mich oft auf den harten Boden der DDR-Wirklichkeit zurück, stand aber letztlich zu meinen Entscheidungen. Im Ruhestand fanden wir dann zu einem intensiven gemeinsamen Leben, konnten zahlreiche Reisen unternehmen und am 3. Oktober 2009 unsere Diamantene Hochzeit feiern. Ein Jahr später starb sie. Ohne sie hätte ich diesen meinen Weg nicht gehen können. So drängt es mich am Ende dieser Rückschau auf mein Leben mit allen, die sich in der christlich-jüdischen Glaubenstradition verwurzelt wissen, dankbar zu bekennen:
„Gnädig und barmherzig ist der Herr, geduldig und von großer Güte.“  

(Ps 103,8)